The Book Thief
Wo beginnen bei diesem exzellenten Buch? Am besten beim Erzähler, denn den kennt jeder und doch taucht er nicht so oft in dieser Rolle auf. Es ist der Tod, nicht ein Tod wie bei Terry Pratchett, sondern ein Tod, der vorauseilt, der sich ein bisschen irren kann, der auch staunen kann, der ein bi ...
Wo beginnen bei diesem exzellenten Buch? Am besten beim Erzähler, denn den kennt jeder und doch taucht er nicht so oft in dieser Rolle auf. Es ist der Tod, nicht ein Tod wie bei Terry Pratchett, sondern ein Tod, der vorauseilt, der sich ein bisschen irren kann, der auch staunen kann, der ein bisschen einfühlsam sein kann – und letztendlich doch alle mitnimmt und schwer daran zu tragen hat, denn es sind die 40er-Jahre im Nazideutschland, und er hat viel einzusammeln, an Gerechten wie an Ungerechten.
Der Tod erzählt die Geschichte der Liesel Meminger, die von ihrer Mutter als Zehnjährige (der kleine Bruder überlebt die Fahrt nicht) zu Adoptiveltern nach Molching (einem Kaff unweit von München) gebracht wird. Die Hubermanns (Hans + Rosa) sind gute Menschen, vor allem aber Rosa verbirgt dies unter einem nicht-endenwollenden Schwall von Schimpfwörtern. Hans, der Maler, kümmert sich aufopfernd um Liesel, bringt ihr Lesen bei, hilft ihr, ihre Alpträume zu bewältigen. Rosa überschüttet das "Saumensch" mit rauer Herzlichkeit, Betonung auf rau. Aber da sind noch andere, die Liesel helfen, ihr Leben zu bewältigen. Max Vandenburg etwa, der Jude, den die Hubermanns im Keller verstecken, weil Maxens Vater im 1. Weltkrieg Hans das Leben gerettet hat. Oder Rudi Steiner, der "Saukerl", eines der nein Steiner-Kinder. Aber auch die Frau des Bürgermeisters, die es der Bücherdiebin Liesel möglich macht, Bücher aus ihrer Bibliothek zu stehlen. Doch die Jahre können natürlich nicht ohne Schrecken um Schrecken vergehen, und der Tod wartet mit genug Schrecklichem auf. Trotzdem verfolgen wir dabei die Kindheit eines Mädchens, das nicht unterzukriegen ist, das – mit Hilfe der guten Menschen, die aber ihr Gut-Sein nicht vor sich hertragen können oder wollen – Leid und Not und Furcht, all das, was heute schön post-traumatischer Stress heißt, auf unterschiedliche Weisen bewältigen lernt, ohne es jemals auslöschen zu können. Mit einer gewissen Neugierde, mit einem fast wohlwollenden Blick verfolgt der Tod dies – und wir, die Leserinnen und Leser, sind genauso gespannt auf die Entwicklung der Ereignisse wie er selbst, obwohl er doch schon so viel weiß.
Zusak, einem jungen australischen Autor, ist ein mehrfaches Kunststück gelungen: Er hat nicht nur eine bewegende und mitreißende Geschichte geschrieben, die uns bis zum (bitteren) Ende gefangen nimmt. Er hat sie auf eine Art und Weise geschrieben, die das Buch deutlich über andere Jugendromane (ist es überhaupt ein Nur-Jugendroman? Nein, natürlich nicht!) hinaushebt. Der Tod mit seinem Sinn für Systematik, seiner geringen Empathiefähigkeit, seiner "Arbeitshaltung", ist ein genialer Erzähler; durch ihn wird die Geschichte immer wieder gebrochen, wird nicht banal, nicht sentimental, nicht belehrend. Die Charaktere sind von einer z. T. kauzigen Eigenwilligkeit; nehmen wir nur die Sturheit und Geradlinigkeit eines Hans Hubmann, die Ruppigkeit (von Saumensch bis Arschloch) einer Rosa Hubmann; oder Rudis Obsession mit dem Läufer Jesse Owens – alle haben sie Unverwechselbares an sich. Schließlich und endlich ist Zusak auch des Deutschen mächtig, sodass die deutschen Einschübe des Todes Nüchternheit so elegant konterkarieren, dass das Buch – trotz des tragischen Inhalts – immer wieder auch lachen macht; dies ist eine große Kunst, die im deutschsprachigen Literaturraum ja kaum beherrscht wird. (Man kann gespannt sein, wie die Übersetzung diese Sprachdoppelung lösen wird.)
Ich beschwöre Sie also: Enthalten Sie weder sich noch Ihren Schülerinnen und Schülern das Buch vor. Machen Sie keine Zwangsverpflichtung aus der Lektüre, aber lesen Sie selbst dieses Buch und legen sie es möglichst vielen Jugendlichen ans Leseherz. Nicht, weil es (schon wieder einmal!) die Nazi-Zeit aufarbeitet, sondern weil es einfach ein rundum gelungener, unbedingt lesenswerter Roman ist. Und weil alle, die ihn nicht gelesen haben, um ein bedeutsames Leseerlebnis ärmer sein werden.
Alfred A. Knopf 2006