Wie Boyne in einer Nachbemerkung erklärt hat ihn auch die Geschichte der 12-jährigen Schwester Gretel interessiert, und nun nach mehr als 15 Jahren ist es ihm gelungen (nicht zuletzt dank Covid), diese Geschichte niederzuschreiben.

„All the Broken Places“ ist weniger Jugendbuch als sein Vorgänger, denn hier erzählt die 91-jährige Gretel von den Stationen ihres Lebens. Sie bewohnt ein 3-Millionen-Pfund Appartement in einer noblen Gegend in London, aber zu Beginn sehen wir sie als Flüchtling auf dem Weg nach Paris, gemeinsam mit ihrer Mutter. Hätte sie fliehen sollen? Ist die erste Frage, die immer wieder auftaucht. Wie viel an Rache hat sie zu befürchten?

Umstände, die hier nicht verraten werden sollen, zwingen sie zur Fluch nach Sydney, weiter Umstände, die ebenfalls nicht gespoilert werden sollen, führen sie nach London, wo sie heiratet, wo sie auch ein Kind bekommt, das sie zur Adoption freigibt.

Nun lebt sie mehr oder weniger ungestört, ab und zu wird sie von ihrem Sohn (dem zweiten Kind) besucht, in der großen Wohnung – bis eines Tages unter ihr ein Ehepaar mit neunjährigem Sohn einzieht. Der Junge (Henry) wächst ihr ans Herz, obwohl sie eigentlich keine Kinder mag. Auch mit dessen Mutter freundet sie sich an, bloß der Vater, ein Filmproduzent, erweist sich als äußerst gewalttätig. Gretel steht wieder einmal vor der Entscheidung: Will ich einen Neunjährigen, den ich mag, verlieren?

In großen Abschnitten, die zwischen den Jahrzehnten wechseln und für Abwechslung beim Erzählen sorgen, beschäftigt sich Boyne nicht nur mit Gretels Leben, sondern mit den Fragen nach Schuld, Rache, Versöhnung, Buße und Reue. Gretel ist eine durchaus sympathische Erzählerin, und auch innerhalb der einzelnen Abschnitte vermag Boyne (besonders durch ‚cliffhanger‘) für gehörig Abwechslung zu sorgen.

Der Roman wird gewiss ohne meine Empfehlung ein durchschlagender Erfolg werden. Gewidmet ist er übrigens Markus Zusak („The Book Thief“).

pp. 371 | 6. Klasse