HANDBUCH LESEN

"Lesen zeichnet sich durch ein Wechselspiel aus Fixationen und Sakkaden aus", heißt es auf Seite 226 dieses gewichtigen (ca. 1.4 kg) Handbuchs in dem Beitrag über die "Neurobiologie des Lesens". Wäre das alles, müsste ich natürlich sofort paraphrasieren: "Am Tische war noch ein Plätzchen,/ Mein ...

"Lesen zeichnet sich durch ein Wechselspiel aus Fixationen und Sakkaden aus", heißt es auf Seite 226 dieses gewichtigen (ca. 1.4 kg) Handbuchs in dem Beitrag über die "Neurobiologie des Lesens". Wäre das alles, müsste ich natürlich sofort paraphrasieren: "Am Tische war noch ein Plätzchen,/ Mein Liebchen, da hast du gefehlt,/ Du hättest so hübsch, mein Schätzchen,/ Von deinem Lesen erzählt."

Wir alle kennen ja unsere Leserinnen und Leser, wir wissen um die Papiersäufer/-innen unter ihnen, wir mühen uns vermutlich redlich, Lesen als Kulturtechnik einerseits, als Erlebnis andererseits nicht verkümmern zu lassen. Instinktiv gehen wir dabei oft die richtigen Wege, oft genug aber schauen wir verbiestert weder links noch rechts, behaupten Dinge, die nicht stimmen (zB "Die Kinder lesen immer weniger"), und treiben letztendlich den Jugendlichen bisweilen die Freude am Lesen und der Literatur gründlich aus.
Mit dem vorliegenden Buch bekommen Sie eine neue Chance! Es eröffnet nämlich die Möglichkeit, sich dem faszinierenden Themenfeld LESEN so zu nähern, dass Sie nachher von sich mit Fug und Recht behaupten können, Sie seien im Umgang mit Lesen a reflective practitioner (Schön), jemand, der Lesesozialisation betreibt, jemand, der selbst liest und urteilt, vor allem aber jemand, der weiß, nach welchen Mechanismen und Gesichtspunkten die unterschiedlichsten Dimensionen des Feldes Lesen zu reflektieren sind.
Das "Handbuch lesen" tritt die Nachfolge des 1974 erschienenen Werkes "Lesen - ein Handbuch" an und ist in vielen Bereichen natürlich sehr aktuell, kann für viele Gebiete mit einigermaßen neuen Untersuchungen und Statistiken aufwarten (auch wenn zB mein Buchhändler nicht glauben will, dass er in einer Wachstumsbranche arbeitet), und kann doch mit dem Quantensprung, den das Internet mit sich gebracht hat, nicht mithalten, will sagen, kann noch mit keinen Daten aufwarten, die das Feld Lesen und das Internet genau bestimmen (nicht nur im Hinblick auf Nutzung im Freizeitbereich, sondern auch in kommerzieller Hinsicht).
[Wobei, und das dürfte allgemein als Trost empfunden werden, Rezipienten im Allgemeinen nach der Devise verfahren: "Ich kann das eine tun, muss aber das andere nicht lassen." (vgl. S. 244). Dass Lesen nicht an Bedeutung verloren hat, ist eine Tatsache, die dieses Buch nachhaltig erläutert - schon alleine deswegen sollten Sie nicht an ihm vorbeigehen.]
Es wird also bald eine erweiterte Geschichte des Lesens zu schreiben sein, die sich noch mehr um den Bereich Lesen und Neue Medien wird kümmern müssen; in ihr wird auch stehen, dass die Kulturtechnik Lesen unverzichtbar für den kompetenten Umgang mit den Neuen Medien ist. Bis es so weit ist, sind Sie allerdings durch das HANDBUCH mit ausreichend interessantem Lesestoff versorgt.
Allein die Dichte des Werks bringt es mit sich, dass sich das Gefühl einstellt, man habe mehrere Bände zum Thema gelesen, zumal auch alle Abschnitte mit so vielen interessanten Literaturverweisen versehen sind, dass man wahrlich einen Blick in so manches "weite Feld" werfen kann. Hinweise auf Schriften wie "Lesemöbel und Leseverhalten vom Mittelalter bis zur Gegenwart" oder "Konnte Maria lesen? Von der Magd des Herrn zur Symbolgestalt mittelalterlicher Frauenbildung" machen m. E. den Mund erst so richtig wässrig. Aber lassen Sie mich Ihnen eher das Gerüst als Anreiz bieten, ehe ich mich noch in Details verliere. Was steht auf dem Lesemenu?
Schön beginnt mit einer faszinierenden Geschichte des Lesens, die von Bonfadelli für die Gegenwart erweitert wird. Es folgen ein Beitrag über die "Psychologie des Lesens" (Christmann/Groeben - hochinteressant) und einer über die "Neurobiologie des Lesens" (Wittmann/Pöppel). Kerlen schreibt sodann über Druckmedien (wobei mich stört, dass es heißt: "Ein Kriminalroman von Stephen King" S. 250; da könnten wir gleich eine Gattungsdebatte führen), und Saur über Elektronische Medien. Sein Beitrag und die anschließende Bibliographie (Fischer) müssen natürlich schon im Ansatz leicht veraltet bleiben. Außerdem hätte ich mir in der Bibliographie zumindest ein paar passende Zeitschriftenhinweise gewünscht; dennoch: Als Einstieg sind auch das lesenswerte Aufsätze. Es folgen Beiträge über "Autor und Publikum" (Plumpe/Stockmann), Literarische Zensur (Löffler), Buchhandel (Uhlig), Bibliotheken (Ruppelt) und dann - für uns als Lehrer/-innen von besonderem Interesse: "Politische Rahmenbedingungen der Lesekultur" (Baer et al.), "Leseförderung" (Buhrfeind et al.), "Institutionen der Literaturvermittlung und Leseförderung" (Franzmann), "Literatur- und Leseförderung in der politischen Bildung" (Thomas), "Lesen- und Schreibenlernen in der Erwachsenenbildung" (Nuissl), "Lesesozialisation, Literaturunterricht und Leseförderung in der Schule" (Dehn et al.) und als besonders faszinierender Abschluss (mit Bildmaterial) ein Beitrag zur Ikonographie des Lesens (Assel/Jäger).
Verzeihen Sie die lange Aufzählung, aber nur sie wird der Dimension des HANDBUCHs gerecht. Ich habe mir viel Zeit für das Buch genommen und würde nach eingehendem Studium und um Sie zu entlasten nun gerne sagen, dass die Beiträge A, B und C die lesenswertesten sind und Sie die anderen ruhig überspringen können. Ich muss Sie jedoch enttäuschen, denn ich habe jeden einzelnen Beitrag mit Vergnügen und Faszination gelesen. Natürlich ist der emotionale Anteil bei all jenen Abschnitten, die mit der Schule zu tun haben, für uns Lehrer/-innen viel größer, der Widerspruchsgeist wird da vielleicht wacher, aber gerade Dehn, Payrhuber und Spinner nähern sich dem Bereich ohne den didaktischen Zeigefinger; natürlich zweifle ich an manchen Untersuchungen (Warum sollen 17-Jährige Bücher im Angelique-Stil mögen, da gibt's doch wohl Neueres - Noah Gordon vielleicht? Ob da nicht die Lesesozialisation des Forschers mitspielt? Vgl. S. 590), aber letztendlich möchte ich keines der Kapitel missen.
Was mir, einem Kaum-Wiederholungsleser und notorischen Vielleser, das Buch nämlich beschert hat, sind zahlreiche Einsichten, die bislang bei mir in einem vagen Zwischenbewusstsein gelagert waren und erst jetzt festen Boden unter den Füßen haben; es sind zahlreiche Nachweise aus dem Wissenschaftsbereich; es sind eine Handvoll neuer Wörter (nie habe ich noch das Wort "auratisieren" verwendet); sind vor allem zahlreiche Literatur-Tipps und schlussendlich zahlreiche Projektideen, die sich so während des Lesens gestalteten. Ich würde also meinen, das Buch mit großem Gewinn gelesen zu haben, und der Klage, dass zehn Leben für die zu lesenden Bücher zu kurz seien, obendrein einigermaßen ausgewichen zu sein.
Bleibt mir noch zweierlei zu sagen: Es ist bedauerlich, dass Österreich so eine geringe Rolle in der Leseforschung spielt und österreichische Beiträge sich auf die Nennung von ein paar Institutionen beschränken (durch Hladej und Kleedorfer); immerhin gehört Langenbucher zu den Initiatoren des Buches, immerhin werden Bamberger und Vanecek zitiert, aber im Großen und Ganzen ist es doch recht kümmerlich für ein Land, das andauernd von sich behauptet, welch hohe Qualitäten im schulischen und kulturellen Bereich vorlägen.
Das andere ist die nachdrückliche Empfehlung des HANDBUCHS LESEN. Der hohe Preis verbietet vermutlich ein private Anschaffung, aber jede Schule, in der Lesen ein Thema ist (und ich hoffe, das ist es in jeder Schule) sollte ein Exemplar des HANDBUCHs besitzen. Wenn es so weit ist, lassen Sie es bitte nicht verstauben! Wenn Sie nur einigermaßen am Thema Lesen interessiert sind, werden Sie das HANDBUCH (oder zumindest im HANDBUCH) mit Freude und Gewinn lesen.

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/julit-deutsch/wissenschaft/detail/handbuch-lesen.html
Kostenpflichtig
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