Die Mitte der Welt
Auf den ersten Blick mag das Buch wegen seines Umfangs abschreckend wirken, aber es wäre wirklich schade, wenn sich niemand unter Ihren Schülerinnen und Schülern fände, der es ungeachtet der Seitenanzahl liest. Schon nach ein paar Anlaufseiten ist man derart vom Geschehen gefesselt, und es war m ...
Auf den ersten Blick mag das Buch wegen seines Umfangs abschreckend wirken, aber es wäre wirklich schade, wenn sich niemand unter Ihren Schülerinnen und Schülern fände, der es ungeachtet der Seitenanzahl liest. Schon nach ein paar Anlaufseiten ist man derart vom Geschehen gefesselt, und es war mir ein Vergnügen, das Buch ohne Unterbrechung zu lesen.
Nicht, dass die Geschichte SO außergewöhnlich ist, obwohl Steinhöfel doch eine Ansammlung bunter Charaktere bietet. Die siebzehnjährige Glass kommt aus Amerika, schwanger mit Zwillingen. Ihre Schwester, die in einem riesigen Haus ("Visible") in einem Kaff lebt, ist soeben tödlich verunglückt, und Glass kämpft sich mit Hilfe einer Freundin, Tereza, und einem starken Gefühl für Unabhängigkeit durchs Leben.
Aber nicht ihre Geschichte wird erzählt, auch wenn wir viel von ihrem Leben kennenlernen. Protagonist ist der siebzehnjährige Ich-Erzähler Phil, der uns mit seiner Familie, seiner Mutter Glass eben, seiner Schwester Dianne und seinem kleinen Freundeskreis bekanntmacht. Zu den Freunden zählen vor allem Kat, Tochter des Schuldirektors, und Nicholas, der scheinbar unerreichbare Sammelpunkt von Phils Sehnen. Phil ist schwul, und viele wissen das; noch mehr ahnen es bloß und reagieren darauf mit kleinlichem Hass - ein Zug, der typisch ist für die Leute des Ortes. Glass und ihre Familie sind die unbeschwerten Außenseiter - Glass wegen ihres Männerverschleißes, Dianne, weil sie angeblich böse Kräfte hat, Phil, weil er ebensowenig ins Bild des typischen Jugendlichen passt wie im übrigen auch Nicholas. Dabei sind Steinhöfel bei der Schilderung der sogenannten Normalen kleine Meisterwerke gelungen (etwa Wolf, der einen tragischen Vorfall auslöst).
Im Grunde also ist's eine der weitverbreiteten coming of age-Geschichten, aber Steinhöfel hat aus zweierlei Gründen ein außerordentliches Buch geschrieben. Zum einen sind's die Charaktere mit ihren Absonderlichkeiten, ihrer Unangepasstheit, ihrem Anderssein, zumindest in diesem provinziellen Rahmen. In Phils Rückerinnerungen lernen wir viele kleine Außergewöhnlichkeiten hinter den Masken kleinstädtischer Friedhofsruhe kennen und schätzen.
Zum andern ist es Visible, das Haus mit seinen vielen Ecken, Verstecken, Plätzen zum Entdecken; Visible ist für mich ein Gormenghast für Jugendliche, ein fast magischer Ort, an dem alles möglich ist.
Diese Mischung aus Andersweltigem und realem Kleinstadtmief, dieser Wunsch nach einer Kindheit und Jugend als einer Kette von vielen (echten und erträumten) kleinen Abenteuern, die Sehnsucht nach etwas, das einem selbst fast hätte passieren können, das einem vielleicht noch passieren könnte - all das macht den Reiz des Buches aus. "Die Mitte der Welt" ist nicht nur ein Jugendbuch, obwohl es bestimmt für manche in der Mittel- und sogar Oberstufe eine ideales Buch sein mag. Es ist auch für Erwachsene ein Ort der Magie, den sie mit Gewinn aufsuchen können. Empfehlenswert!
(GF13/6-1998)