Die Verräterin
1944/45 in einem kleinen Dorf (Stiegnitz), nahe der heutigen tschechischen Grenze. Anna entdeckt auf dem Heimweg vom BDM-Nachmittag Spuren im Schnee, die zur Scheune ihres Gehöfts führen. Es stellt sich heraus, daß acht Russen entflohen sind, einer davon versteckt sich eben bei ihnen. Er ist der ...
1944/45 in einem kleinen Dorf (Stiegnitz), nahe der heutigen tschechischen Grenze. Anna entdeckt auf dem Heimweg vom BDM-Nachmittag Spuren im Schnee, die zur Scheune ihres Gehöfts führen. Es stellt sich heraus, daß acht Russen entflohen sind, einer davon versteckt sich eben bei ihnen. Er ist der einzige, der nicht gefangengenommen wird, denn Anna hilft ihm und bringt ihn zu einem Bunker, versorgt ihn mit Kleidung und Lebensmitteln. Monatelang zittert sie um sein Leben und ihr Leben...
Pausewangs Charaktere leben in einer kleinen bäuerlichen Welt. Die Großmutter hält Religion für wichtiger als Politik, die Mutter führt einen Gasthof und ist daran interessiert, es sich mit niemandem zu verderben. Seff, der älteste Sohn, ist im Krieg, der vierzehnjährige Fritz brennt darauf, das Vaterland verteidigen zu dürfen. Dazwischen ist Anna, die eher ihrem verstorbenen Vater ähnelt: ohne Haß, zu Träumen neigend. Es ist natürlich eine spannende Geschichte, die nicht im allgemeinen Wohlgefallen enden kann, aber das erwartet auch niemand, der Pausewang gelesen hat. Wie immer bei Pausewangs Büchern (vgl. "Der Schlund" in GermanistInnenforum Nr. 4) bleibt die Frage, wie glaubwürdig die Charaktere sind. Das didaktische Element in Pausewangs Büchern verzerrt möglicherweise die Echtheit. Dass ein BDM-Mädchen so viel kritische Distanz entwickelt, scheint eher unwahrscheinlich, ist doch gerade sie durch die Erziehungsmühle des Nationalsozialismus gegangen; glaubwürdiger ist da schon Fritz, dem Führer und Vaterland alles gelten und dessen Fanatismus schließlich die Tragödie auslöst.
Soll aber die Botschaft sein, daß auch im Totalitarismus die Menschlichkeit nicht auszurotten ist, dann ist Anna immerhin eine Identifikationsfigur, die als solche gut gezeichnet ist. Pausewang ist es diesmal zumindest gelungen, nicht zu tief in den Klischeetopf zu greifen, und sie hat auf jeden Fall eine Geschichte geschrieben, die "unterhält" und belehrt und in vierten Klassen eine passende Ergänzung zum Geschichts- und Deutschunterricht liefert.
(GF8/11-1995)