Die Kopfrechnerin
Seidels Buch macht vorerst neugierig, beginnt fast wie ein Thriller. Wir schreiben das Jahr 1860; die 15-jährige Chiara Lisa Morelli findet sich plötzlich als Vollwaise wieder und hegt den furchtbaren Verdacht, dass ihre Eltern ermordet worden sind. Sie vermutet, dass ihr Vater an eine ...
Seidels Buch macht vorerst neugierig, beginnt fast wie ein Thriller. Wir schreiben das Jahr 1860; die 15-jährige Chiara Lisa Morelli findet sich plötzlich als Vollwaise wieder und hegt den furchtbaren Verdacht, dass ihre Eltern ermordet worden sind. Sie vermutet, dass ihr Vater an einer wichtigen wissenschaftlichen Entdeckung gearbeitet hat und deswegen sterben musste. Sie selbst besitzt auch ein einzigartiges Talent, sie kann ungeheuer schnell Kopfrechnen, denn für sie sind die Zahlen eine lebendige Welt und sie sprechen zu ihr.
Nun aber muss sie Italien verlassen und zu ihrem Onkel, Prof. Göttling, nach Berlin ziehen. Göttling ist ein ehrgeiziger, eitler Mathematiker, der seine Familie bespitzelt, Anfälle von Raserei hat und dann wieder liebenswürdig sein kann. Er hat sich - vor allem im Bereich der Kryptologie - offensichtlich politischen Mächten versprochen, kann aber das Geforderte nicht liefern; mit Chiaras Hilfe versucht er nun, sich seiner Verpflichtungen zu entledigen (so etwa arbeitet sie unermüdlich an den Kommastellen der Zahl Pi). Chiara und Göttlings ebenfalls etwas seltsamer Sohn Toto versuchen nach Amerika zu entfliehen, nachdem auf Chiara Anschläge verübt wurden und Toto angeblich das eigene Haus angezündet hat. Der Flug in einem Fesselballon von Berlin nach Hamburg endet allerdings mit einem Desaster; allmählich lernen wir die größeren Verbindungen in Chiaras Leben kennen; der König, ein Mathematiknarr, wollte sie schon seit langer Zeit an seinen Hof binden - und dies erklärt zahlreiche Vorkommnisse, die bislang mysteriös schienen.
Wie gesagt, die Ausgangssituation klingt recht viel versprechend, auch findet sich gleich zu Beginn ein wunderhübsches mathematisches Beispiel - aber dann kommt der Roman doch recht schwerfällig, langatmig, verwirrend und verschroben daher. Mehr Rechenkunst und weniger Verwirrungstaktik hätten dem Buch sicher gut getan, zumal Seidel ja auch antreten ist, die Bedeutung der (Natur)Wissenschaften im 19. Jahrhundert sichtbar zu machen und die Entdeckerfreude, die Aufbruchsstimmung darzustellen. Der Roman wird vermutlich nur eine Minderheit ansprechen, kann aber als einigermaßen untypisches Jugendbuch dennoch Gefallen finden.