Der Mond isst die Sterne auf

Dies ist die Geschichte der Familie Gülen, die in Berlin lebt. Der Ich-Erzähler Ömer macht gerade sein Abitur, sein Bruder Adnan betreibt ein Lokal, die Mutter sitzt zu Hause, sorgt (sich) um die Familie – und der Vater, Seyfullah Gülen, der in den 60-er Jahren aus Anatolien nach Deutschland ge ...

Dies ist die Geschichte der Familie Gülen, die in Berlin lebt. Der Ich-Erzähler Ömer macht gerade sein Abitur, sein Bruder Adnan betreibt ein Lokal, die Mutter sitzt zu Hause, sorgt (sich) um die Familie – und der Vater, Seyfullah Gülen, der in den 60-er Jahren aus Anatolien nach Deutschland gekommen ist, wird zu Beginn des Romans aus dem Wasser gefischt, in das er vermutlich von Skinheads gestoßen wurde. Die deutsche und die türkische Presse überschlagen sich mit Meldungen, Demonstrationen finden statt – und inzwischen versucht Ömer mit einigen Freunden nicht nur mehr über den Vorfall herauszufinden, er versucht auch mehr über den Vater, den er eigentlich kaum kennt, zu erfahren. Allmählich erfahren wir, dass Seyfullah, der unauffällige und ordentliche Familienvater, seine eigene Geschichte hat. Jedes der zehn Kapitel beginnt mit einem Abschnitt, der seinem Leben und seinen Gedanken gewidmet ist. Am Ende wissen wir, dass die Wahrheit, die offensichtlich nicht allen zumutbar ist, viel komplexer ist als eine Zeitungsmeldung, ein Polizeibericht.

Dilek Zaptcioglu, die in Istanbul und Göttingen studiert hat und Deutschlandkorrespondentin für die türkische Tageszeitung Cumhuriyet ist, hat es erfreulicherweise vermieden, eine platte Skinheads vs. Türkenbanden-Geschichte zu schreiben; mindestens so groß wie der politische Teil ist auch der human interest-Teil der Geschichte, und in der Tat ist der insgesamt nur wenige Seiten umfassende Abschnitt über Seyfullah berührender und interessanter als die Suche des Sohnes, denn er zeigt, der Wahrheit wohl am nächsten, wie den Menschen das Leben passiert – ob nun im Glück oder im Unglück. Dennoch ist das Buch nicht frei von "Ethnokitsch", und es bleibt zu fragen, inwieweit dies nicht ohnehin Bestandteil aller Literatur ist, die (auch) zum Ziel hat, fremde/wenig vertraute Kulturen zu erschließen. Dass Seyfullahs Auge in der Fließbandhalle bei Siemens erst die anatolische Weite vergessen muss, scheint mir weniger beeindruckend als die marginale Existenz der Mutter, die in der Berliner Wohnung so lebt, als säße sie in einem Raum des anatolischen Bauernhauses. Wie auch immer: Mit etwas kritischer Distanz gelesen ein durchaus interessantes und wichtiges Buch.
(GF14/1-1999)

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/julit-deutsch/familie/detail/der-mond-isst-die-sterne-auf.html
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