Wo warst du, Robert?

Nicht nur die Frage "Wo bin ich?" beschäftigt den vierzehnjährigen Robert, sondern auch die Frage "Wann bin ich?" Denn beim Fernsehen in unserer Gegenwart passiert es ihm plötzlich, dass seine Augen tränen und er sich in just jenem Bild, das er gerade gesehen hat, wiederfindet; das Bild zeigt No ...

Nicht nur die Frage "Wo bin ich?" beschäftigt den vierzehnjährigen Robert, sondern auch die Frage "Wann bin ich?" Denn beim Fernsehen in unserer Gegenwart passiert es ihm plötzlich, dass seine Augen tränen und er sich in just jenem Bild, das er gerade gesehen hat, wiederfindet; das Bild zeigt Nowosibirsk im Jahre 1956. Robert landet inmitten von Kälte und Unruhen, und alsbald mengt sich auch der KGB ein. Es folgen sechs weitere Reisen und jede trägt ihn ein Stück mehr in die Vergangenheit. Von der sibirischen Waschküche geht es ins Australien der späten 40-er Jahre, dann zur Urgroßmutter ins Deutschland von 1930. Die vierte Reise bringt Robert in ein norwegisches Dorf des Jahres 1860, die fünfte ins Barock, wo er mit dem Philosophen Treibnitz (!) vom Hof flüchtet und den armen Mann mit seinem Taschenrechner, den er mitgebracht hat, zur Verzweiflung treibt. Sodann findet sich Robert als Straßenräuber im 30-jährigen Krieg wieder, um schließlich in der siebenten Reise bei einem Amsterdamer Maler zu landen. Dort nutzt er sein enormes Bildgedächtnis und malt sich in die Küche der Anfangsszene zurück.

Man mag rätseln, was Enzensberger für Subtexte eingebaut hat; ich lese das Buch vorwiegend als abenteuerlichen Bilderbogen, und damit hat es sich m.E. auch schon; etwaige Gedanken zu Toleranz oder Kosmopolitismus sind nette Beigaben, aber im Grunde ist's ein Abenteuerbuch nach einem sicheren Rezept – sofern ein Autor erzählen kann. Und das kann Enzensberger! Als Kind hätte ich mir so ein Endlosbuch wie dieses gewünscht: Ein Held (als Identifikationsfigur) reist herum und unterhält und belehrt (ein bisschen) mit seinen Erzählungen. Wem also danach ist, der wird sich bei diesem Buch wahrhaft unterhalten. Obendrein ist es so angelegt, dass uns Enzensberger sogar mit einer Fortsetzung verwöhnen könnte.

P.S. Es ist immer wieder ein Vergnügen, die sorgfältig gemachten Hanser-Bände in die Hand zu nehmen. Interessant, dass Enzensberger offensichtlich auf der "alten" Rechtschreibung bestanden hat, wobei des Guten zu viel getan wird, denn der Beistrich steht hier sogar vorm bloßen Infinitiv mit "zu."
(GF15/6-1999)

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/julit-deutsch/detail/wo-warst-du-robert.html
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