Krokodil im Nacken

Kordon hat es offensichtlich darauf angelegt, Rowling Konkurrenz zu machen - nein, nicht inhaltlich, obwohl einiges hier sehr nach Zauberstäben riefe, um Gefängnistüren zu öffnen, sondern einzig und allein, was den zumutbaren Umfang für Jugendbücher heutzutage betrifft.Aber die Geschichte des Ma ...

Kordon hat es offensichtlich darauf angelegt, Rowling Konkurrenz zu machen - nein, nicht inhaltlich, obwohl einiges hier sehr nach Zauberstäben riefe, um Gefängnistüren zu öffnen, sondern einzig und allein, was den zumutbaren Umfang für Jugendbücher heutzutage betrifft.
Aber die Geschichte des Manfred Lenz, der 1972/73 wegen versuchter Republikflucht aus der DDR im Gefängnis sitzt, liest sich nicht minder spannend, und die 800 Seiten sind rascher verschlungen, als man anfänglich meinen möchte. Manfred "Manne" Lenz wurde mit seiner Frau Hannah und seinen beiden kleinen Kindern in Bulgarien festgenommen, weil herausgefunden worden war, dass die Familie mit falschen Pässen unterwegs war - und in der Tat wollten sie zu Hannahs Schwester nach Frankfurt/M. fliehen. Der Gefängnisaufenthalt bietet nun Platz genug, den Werdegang Mannes kennen zu lernen, vom kleinen Jungen, der in der Kneipe seiner Mutter aufwuchs und schon dort ein distanzierter Beobachter war; vom jungen Manne, der herumstreunte und Schwierigkeiten machte, bis eines Tages seine Mutter starb und er in einem Jugendheim landete. Bis zu seinem 18. Lebensjahr begleiten wir ihn durch das Heimleben und lernen einen abenteuerlustigen und kritischen Jugendlichen kennen. Es folgen Ausbildungsversuche, es folgt die schöne Zeit, in der er Hannah kennen lernt, sie heiratet, es folgt die Zeit in der Armee, die Zeit in den Betrieben, beim Studium. Manfred Lenz sieht seine Umgebung mit wachen Augen, aber immer wieder - schon allein seiner Familie zuliebe - schließt er sie und geht durch den Sumpf aus Pathos und Selbsttäuschung, der sich in weiten Teilen der DDR zeigt. Bis eben das fremdbestimmte Leben nicht mehr auszuhalten ist - und der erfolgreiche Manfred Lenz, dem sogar Auslandsreisen gestattet sind, jene Flucht plant, die er bei viel günstigeren Gelegenheiten nie ergriffen hat.
Vieles in dem Buch spiegelt offensichtlich Kordons persönliches Schicksal wider, und daher verwundert es nicht, dass ihm fast alle Teile des Romans höchst eindrucksvoll und lebendig geraten sind. Vor allem die Berliner Kindheit liest sich faszinierend. Die Zeit im Heim und die Kapitel, die von der Gefängnis- und Vernehmungsroutine handeln, die vom festen Glauben vieler kleiner Beamter, Angestellter, Arbeiter an ihren 'Friedensstaat' beseelt sind, lesen sich mit leichtem Schauer und Kopfschütteln, wenn auch nur aus der besserwisserischen Distanz. Denn Manne hasst sein Land nicht, Kordon hat keinen Anti-DDR-Roman geschrieben, keine Verherrlichung des so genannten freien Westens. Wofür aber sein Manne mit Trotz eintritt, sind grundlegende Menschenrechte; so gehört für mich zu den gelungensten Szenen gegen Ende des Buches, wo die Auslieferungsroutine (die DDR lässt sich damals ihre Gefangenen abkaufen) ein bisschen langatmig wird, jene konzertierte Widerstandsaktion im Gefängnis, bei der die politischen Häftlinge den Vergleich mit Buchenwald ziehen, wobei ihnen aber klar bewusst ist, was für einen kühnen Vergleich sie da ziehen. Dass gelebte Solidarität auch unter den widrigsten Umständen wirksam werden kann, das ist nur eine Maxime, die sich aus diesem Buch lernen lässt. Dass es wichtig ist, kritisch zu sein, ein politischer Kopf zu sein, sich ein Gefühl für Mitmenschlichkeit zu bewahren, der Bürokratie der Grausamkeit nicht auf den Leim zu gehen, die so beredt und allumfassend daherkommt, das sind ein paar weitere Lektionen, die sich lernen lassen. Und dabei soll nur nicht vergessen werden, dass auch wir da und dort im Glashaus sitzen...
"Wider den Stachel zu löcken" ist also eine Kunst, die nicht in Vergessenheit geraten darf - dieses Buch, wichtig und gewichtig, hilft beim Erlernen der Kunst; gleichzeitig, nicht zuletzt wegen seiner Differenziertheit und der darin sich offenbarenden Menschenliebe, ist es ein zeitgeschichtliches Dokument, von dem ich mir wünsche, dass es möglichst viele Leser/-innen findet.

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/julit-deutsch/beziehungen/detail/krokodil-im-nacken.html
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