Der talentierte Schüler und seine Feinde

In regelmäßigen Abständen erscheint "Bedienungsliteratur" zum Thema Schule, die ein relativ großes Publikum anspricht. Wer beruflich mit Schule zu tun hat, wird diese Bücher lesen oder zumindest einen Blick hineinwerfen, schon allein deswegen, weil die Tageszeitungen ein gefundenes Fressen darau ...

In regelmäßigen Abständen erscheint "Bedienungsliteratur" zum Thema Schule, die ein relativ großes Publikum anspricht. Wer beruflich mit Schule zu tun hat, wird diese Bücher lesen oder zumindest einen Blick hineinwerfen, schon allein deswegen, weil die Tageszeitungen ein gefundenes Fressen daraus machen. Wirklich bedient werden aber die Kunden des Systems Schule. Da sind es mal die falsch oder schlecht ausgebildeten Lehrer/innen 'in toto', dort sind es vernagelte Pädagoginnen und Pädagogen, die sich nicht um die 7-9 Intelligenzen kümmern – und hier sind es u.a. die Minderleister, die, System hin oder her, eine Potenzialvernichtungsmaschinerie betreiben, meist unterstützt von starrköpfigen Gewerkschaftern. (Okay, wenn damit der Herr Neugebauer gemeint ist, will ich nicht aufschreien.) Bedient werden mit diesen Büchern all jene, die meinen, ihr Kind habe reichlich von den 7-9 Intelligenzen, sei ein großes Talent, das bloß von seinen Feinden nicht erkannt werde, denn zu verlockend ist der Schluss aus einer Vielzahl von Anekdoten, die sich in solchen Büchern wieder findet: Weil der Quälgeist dann ein berühmter Sowieso geworden ist, könnte mein Kind, über das es stets Beschwerden gibt, auch ein berühmter Sowieso werden, wenn, ja, wenn da nicht die Talentevernichter wären. Nestroy hat das mit seinem Couplet "Ja, an Buam wie mein Hansi, haum in der ganzn Schul kann Sie" einst ohnedies treffend beschrieben.

Das Dumme an der Sache: Salcher hat natürlich nicht Unrecht. Ja, Lehrerinnen und Lehrer sind von entscheidender Bedeutung, ja, es gibt welche, die den Kindern das Leben zur Hölle machen – und es passiert letztendlich nichts. Es gibt welche, die Tag für Tag sinnentleerte Langeweile verbreiten – und man lässt sie geschehen. Man wünscht sich eben für seine Wunderkinder (und in gewisser Weise ist jedes Kind ein Wunderkind) die Überlehrer/innen. Salcher bemüht dabei immer wieder das Gesundheitssystem – dort dürfe man nicht so fahrlässig handeln wie in der Schule. Ich darf kurz lachen – und Sie daran erinnern, dass Sie aus Ihrem Bekanntenkreis sicher unzählige Geschichten von Fehldiagnosen, ganz zu schweigen von mangelnder Sozialkompetenz im Gesundheitsbereich kennen. (Und da rede ich von simplen Leistenbrüchen, nicht von rätselhaften Tropenkrankheiten.) Wenn Salcher also nun schreibt: "Die Motivation und das Leistungsniveau der Schüler hängen zu 100 Prozent vom Lehrer ab […]", dann ist das deswegen ärgerlich, weil komplexe Vorgänge nie monokausal sind. (Dass bei einem Beruf mit hohem Frauenanteil keine Zeit zum Gendern ist, mögen die Leser/innen dabei selbst beurteilen.) Zu einfach ist die These: Hinter schlechten Schülerinnen und Schülern stehen schlechte Lehrerinnen und Lehrer! Dass aber Lehrer/innen einen wesentlichen Anteil an diesen Faktoren (Motivation, Freude am Lernen etc.) haben, ist unbestritten – und nicht neu. "Der Kampf um die besten Schulen der Welt wird nicht in Parlamenten und Schulbehören entschieden, sondern in jeder einzelnen Schule und in jedem Klassenzimmer." (211) Auch das wissen wir! Und danach versuchen Schulen auch zu handeln – schon allein wegen des Konkurrenzdrucks, der in den letzten zehn Jahren entstanden ist. Das alles wäre aber viel leichter, so Salchers Grundthese, wenn nur die Besten den Lehrberuf ergreifen dürften, nur jene, die das Wohl der Kinder, nein, jedes einzelnen Kindes und nicht Standes- oder Fachinteressen vor Augen haben.

In Thesenform heißt das: 1. Lehrer dürfen nur die Besten werden. 2. Das Entscheidende ist der Unterricht in der Klasse und nicht die Schulorganisation. 3. Das individuelle Talent jedes Schülers hat oberste Priorität.

Dem will ich mich ganz und gar nicht verschließen, obwohl ich dahin gestellt lassen will, ob man mich je für den Beruf ausgewählt hätte. Ich kann auch dem Hire&Fire-Prinzip etwas abgewinnen – allerdings nicht in einem Land, in dem der Innenminister per Email für jeden Papierklauber persönlich interveniert, wenn dieser konveniert.

Das Problem ist tatsächlich, dass sich die Schule (und damit die dort Tätigen) laufend selbst Anerkennung zollen muss, wenn sie auf diese Wert legt. Wertschätzung von außen ist rar – weil man sich ja sowieso einen reibungslos ablaufenden Betrieb erwartet, ungeachtet der Tatsache, wie viel Zuwendung das einzelne Kind braucht (manche 40 von 50 Minuten der Unterrichtsstunde). Salcher argumentiert, dass Prestige und Qualität über strenge Ausleseverfahren generiert werden können und dass in den Köpfen der Lehrenden ein Bewusstsein für die individuelle Förderung von Talenten verankert gehört, dass dafür aber eigentlich keine strukturellen Maßnahmen erforderlich seien. Stimmt natürlich nicht ganz; ich unterrichte an einer sogenannten Regelschule und an der Sir-Karl-Popper-Schule – wo schlicht und einfach den starren Strukturen, die Schulalltag sonst begleiten – zum Wohle der Schüler/innen übrigens – nicht so viel Bedeutung beigemessen wird. Dort ist es eben einfacher, die Tür zur Welt nach außen aufzumachen.

Wie bei allen Büchern, die Überzeugungsarbeit leisten wollen, bedient man sich gerne der griffigen Beispiele; das ist legitim, aber wenn ich mich ans Erbsenzählen machen müsste, so kann doch nicht alles stimmen. Dass jemand mit Parteibuch nach zwei Jahren pragmatisiert wird, das gab es nicht einmal im goldenen Zeitalter der Pragmatisierungen. Dass ausgerechnet eine Gynäkologin die Menarche ihrer Tochter ignoriert, klingt zwar gut, aber doch eher gut erfunden. Ein paar Handvoll solcher Beispiel könnte ich aufzählen, doch das soll den Wert des Buches nicht mindern – und der ist unbestreitbar gegeben: Gerade als Lehrerleser kann ich unentwegt zwischen Kopfnicken und Kopfschütteln pendeln – gewiss ein gutes Zeichen für anregende Lektüre. (Und die Länge meiner Ausführungen beweist – das Buch bewegt.) Und wenn ich eingangs geschrieben habe, es handelt sich hier um "Bedienungsliteratur" (für alle möglichen Wehleidigkeiten), so schließt das auch ein, dass es "Ermutigungsliteratur" ist – dafür nämlich, die Diskussion um Schule ernst zu nehmen. Nicht so sehr die Diskussion um das System Schule, sondern um das, was zu den bestgehüteten Geheimnissen zu zählen scheint: Was tatsächlich in unseren Klassenzimmern passiert. Wenn das Buch wenigstens ein paar der Türen, an die es anklopft, öffnet, dann ist bereits Wichtiges für die Schulen der Zukunft getan.

Salzburg: Ecowin 2008

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.04.2008
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