Anna, die Schule und der liebe Gott
Ja, Precht ist so ein Philosophenstar mit Fernsehsendung, ja, er schreibt populärwissenschaftliche Bücher (na und?) und ja – er führt mit dem Titel ein bisschen in die Irre, denn der liebe Gott tritt nur kurz auf, und das in der Anekdote, die er aus Ken Robinsons Buch „The Element“ übernommen hat.
Dennoch – es lohnt sich die Lektüre; sie lohnt sich ganz besonders dann, wenn man aus der Branche ist und zeitgleich grad den Larmoyanz-Artikel in der Retro-Zeitung „ahs“ gelesen hat, in dem ein Kollege die Einengung des Mathematik-Unterrichts durch die neue Matura beklagt.
Denn da hat Precht allemal recht, wenn er sagt: Wir brauchen keine Bildungsreform, wir brauchen eine Bildungsrevolution!“ Ein Leben lang habe ich ja selbst mitgeholfen, da und dort ein bisschen was dazuzuflicken oder abzutragen, aber nach einem langen Lehrerleben kann ich nur bestätigen: Es wird immer absurder, was da in den Schulen passiert. Weder den sog. Guten noch den sog. Schlechten widerfährt auch nur einigermaßen Gerechtigkeit. Precht hat als Hauptfeind den Taylorismus ausgemacht, der von Lehrerinnen und Lehrern, die glauben, die Schule sei die Welt, weil es ihre Welt ist, aber auch von Schulbürokratie, Bildungspolitik – und letztendlich auch Eltern, ja sogar Kindern, am Leben gehalten wird. Das Gute tritt auf in der Person Washburnes, von dem die Prinzipien des „Mastery Learning“ (Lernstufen, Lernziele, individuelles Lerntempo) stammen und den vermutlich niemand kennt. Precht kritisiert so ziemlich alles, mit dem Risiko, dass der, der auf alle hinhaut, niemanden trifft. Er will Projekte, individuelles Lerntempo, Lehrer/innen, die Vermittlunskünstler/innen (entscheidend ist motivieren können!) sind; er will keine Noten, keine Jahrgangsklassen, kein dauerndes Wiegen und Messen, keinen Dauerfluss von belanglosen PISA (etc.)-Daten, keine soziale Auslese. Recht hat er. Aber das wissen wir ja eigentlich schon, oder? Was wir nicht wissen, ist, warum eigentlich so verdammt wenig passiert.
Precht teilt sein Buch in zwei große Abschnitte; der erste, „Die Bildungskatastrophe“, skizziert, was bisher geschah. Der zweite, „Die Bildungsrevolution“, zeigt, was sich ändern sollte und könnte. Klar, dass die Revolution auf 150 Seiten sehr verknappt daherkommt und nicht auf die feinsinnigen Beobachtungen eines Mathe-Lehrers zum Thema Goniometrie oder einer Deutschlehrerin zum Thema Indefinitpronomina Rücksicht nimmt. Was Prechts Buch lesenswert macht, ist die Fülle an beherzigenswerten Sätzen, gerade dann, wenn man selbst den Lehrberuf ausübt, denn sie können immerhin ein leises Korrektiv zu unserem Selbstverständnis, das ja vom Brustton der Überzeugung lebt, sein. Das mag alles schon woanders stehen, Precht ist halt ein Meister des Verständlichen und Plakativen, er ist gewiss ein Vermittlungskünstler. (Und daran ändert auch ein dass-Fehler nichts, den ich mit meinem kleinlichen Deutschlehrerauge erspähen musste.)
Was aber das wirklich Unterhaltsame an solchen Büchern ist – der nachfolgende Rundumaufschrei. Jeder pickt sich was raus, jeder ist Experte – und fast alle sprechen wieder von Behutsamkeit. Womit wir vermuten können, dass sich die Schule auch im 21. Jahrhundert nicht wesentlich ändern wird, außer die sozial Selektierten lassen sich das nicht auf Dauer gefallen.
Die werden das Buch ja eher nicht lesen – und wenn es nach dem Rezensenten der „Welt“ geht, sollte es niemand lesen, weil es ein Ärgernis ist. Weil wir schon so oft von all den Missständen gelesen haben und sich ja doch nichts ändert. Und weil es besser wäre, ein Buch darüber zu schreiben, warum dem so ist. Aber bis dahin können Sie ja doch in den Precht hineinlesen – Sie werden ihn vermutlich dann ganz lesen wollen.
München: Goldmann 2013; S. 351