Lehrerinnen- und Lehrerbildung braucht Qualität. Und wie!?

Wie beginnen angesichts der Fülle des Materials, das, wie immer bei einer umfangreichen Sammlung, unterschiedliche Geschmäcker und Interessen bedient? Mit einer Liste von "Genau!"- und "Naja schon, aber"-Vermerken? Oder mit dem Festkrallen an einer allzu leichtfertigen Wertung, mit der in einem ...

Wie beginnen angesichts der Fülle des Materials, das, wie immer bei einer umfangreichen Sammlung, unterschiedliche Geschmäcker und Interessen bedient? Mit einer Liste von "Genau!"- und "Naja schon, aber"-Vermerken? Oder mit dem Festkrallen an einer allzu leichtfertigen Wertung, mit der in einem Beitrag Lehrer/-innen, die "eher wenig oft offene Lehr- Lernformen" einsetzen, kurzerhand als konservativ abgestempelt werden? So, als ob der Einsatz offener Lernformen schon per se einen fortschrittlichen Lehrer macht? Letzteres wäre natürlich ein guter Ansatzpunkt, denn fast alle Arbeiten in diesem höchst verdienstvollen Buch zeichnen sich durch einen Hauch von Zelotismus aus. Da wurden diese Konzepte entwickelt, jene Modelle erprobt, diese Module zusammengestellt und jene unabdingbaren Parameter aufgelistet. Wägt man sie gegeneinander ab, landet man letztendlich bei der Ultima Ratio aller wissenschaftlichen Bemühungen: "Die einen sagen so, die andern sagen so."
Genau diese Überlegung, der Erziehen und Lernen durchwebt, nämlich: Wie immer ich es mache, ich mache es falsch, nimmt der erste Beitrag ("Mit Unsicherheiten souverän umgehen lernen") geschickt auf: Schratz und Wieser zeigen, dass "Unsicherheit" nicht ein individuelles Problem, sondern ein konstitutives Merkmal unserer Profession ist, dem aber strukturell begegnet werden kann. Solcherart auf den Zweifel eingestimmt, liest sich das Buch mit jener Bewegtheit, die gute Bücher auszeichnet, weil man unentwegt mit Zustimmung, Widerspruch, Kopfschütteln, Staunen – und Mitteilungsbedürfnis der nichtlesenden (und daher nicht mitgerissenen) Umwelt gegenüber verspürt. Was versäumen Letztere, was erwartet Sie?
Das Buch ist in sechs große Abschnitte gegliedert, die sich mit folgenden Bereichen auseinandersetzen:

  1. Grundsätzliches zur Qualitätssicherung und –entwicklung in der Lehrer/-innenbildung
  2. Qualitätssicherung und –entwicklung in der pädagogischen Ausbildung
  3. Qualitätssicherung und –entwicklung in den Schulpraktika
  4. Qualitätssicherung und –entwicklung in der fachdidaktischen und fachlichen Ausbildung
  5. Qualitätssicherung und Schulentwicklung
  6. 6. Qualitätssicherung und –entwicklung in der personalen Entwicklung von LehrerInnen

Da fehlt nichts, möchte man meinen, widmen sich doch insgesamt 32 Autorinnen und Autoren diesen Themenbereichen. In der Tat werden alle möglichen Ausbildungsformen, Evaluationsverfahren, OE- und PE-Vorhaben etc. etc. für sämtliche Altersstufen diskutiert, verglichen (der Blick über den Zaun ist garantiert), erklärt, ein bisschen schön geredet, der weiteren Beobachtung anheim gestellt. Dass dabei trotzdem nicht alles abgedeckt werden kann, versteht sich von selbst.
So finden wir etwa im für mich besonders spannenden 4. Abschnitt einen Beitrag zur Mathematik (Krainer), einen zur Religionspädagogik (Scharer), einen flott zu lesenden zu GWK (Erhard), einen zu (vorwiegend) Englisch (Hinger et al.), einen zu GSK (Ecker mit dem Wiener Modell) und noch einen zur Mathematik (erfrischend klar, obendrein fußnoten- und quellenfrei, von Pauer). Da fehlen nicht nur Fächer, da ist auch viel Problematisches versteckt. Ist die Bereichsdidaktik bei den Philologien nicht doch eine Sparmaßnahme? Wie viel kann FD Latein einem Fach wie Englisch, das immerhin über einen ganzen Forschungszweig (applied linguistics) verfügt, tatsächlich bieten? Wer organisiert, vor allem aber wer bezahlt die vielen frommen Wünsche nach mehr Praxis? Wer die nach früher Praxis in der Studieneingangsphase? Woher kommen die notwendigen Dotierungen/Personen für die Fachdidaktik? Von einer Fachwissenschaft, die sich, nicht zu Unrecht, von zahlreichen Sparmaßnahmen ohnehin eingekreist sieht?
Selbst wenn wir das ewige Gejammere über den Kostenfaktor einmal großzügig ignorieren, so zeigt sich in diesem Band doch, dass bestenfalls small beautiful sein kann. Denn viele der Beiträger/-innen haben ihr Arbeitsfeld an eher kleinen Universitäten und lassen tunlichst die Probleme, die eine große Universität wie die Uni Wien hat, außer Acht. Frühes Schnuppern im 2. Semester Anglistik an der Universität Wien? Wer kann das bezahlen? Denn es wird den Schulen nicht reichen, dass Hundertschaften über sie hereinbrechen und so tun, als wären sie Beobachtungs- und FeedbackexpertInnen. Als Lehrer sehe ich da wohl das Papierl, nicht aber das Zuckerl drinnen. Die starke "Südwestösterreichlastigkeit" des Buches relativiert also so manches; die Überstrahlung aller Sterne durch einen noch helleren (Rauscher, "beängstigend" wie immer) auch. Die Vertröstung auf spätere Antworten, das (durchaus verständliche) Aussparen von Ergebnissen (etwa bei Brunner/Schratz) macht neugierig und auch ein bisschen unzufrieden. Der Nachweis, dass diskursives Wissen einen zufrieden stellenderen Schulalltag garantiert als bloße praktizistische Verkürzung (Hackl), wird auch nur in Ansätzen erbracht. Ein praktisches Beispiel zum Abschluss-Assessment (Weiser) wäre sicher interessant gewesen. Aber all das sind Dinge, die in weiteren Publikationen (der Band wirkt manchmal leicht veraltet, wenn von 2001 die Rede ist und auf die Zukunftsmusik von 2002 verwiesen wird) nachgeholt werden können bzw. schon nachgeholt wurden.
Was bei der weitgehend berechtigten Begeisterung, die ich schon eingangs erwähnt habe, ein bisschen untergeht, ist die Tatsache, dass Schule nicht nur hehre (Aus)Bildungsinstitution, sondern mitunter auch – aus Elternsicht - Aufbewahrungsanstalt und aus - Schüler/-innensicht - Vergnügungszentrum ist. Ob die Studentinnen und Studenten, die oftmals mit viel Schwung und Neugier ihre Ausbildung angehen, sich auch dieser Dimension bewusst sind, wage ich zu bezweifeln. Es stellt sich für mich außerdem die Frage, ob nicht mit einer gehörigen Portion an "Betulichkeitspädagogik", einem Füllhorn von gescheiten Fragestellungen und sensiblen Ermutigungen eine Routinebildung erfolgt, bei der man nie lernt, Grenzen zu überschreiten und Zäune zu überspringen. Wenn alles wirklich so liefe, wie es sich viele wünschen, dann würde die wichtige, bereits apostrophierte Dimension der Unsicherheit bald verloren gehen und feinsinnigen Routinen, die zur Selbstgefälligkeit verleiten, Platz machen.
Bevor ich jedoch in allzu allgemeines Sinnieren verfalle, lassen Sie mich nochmals zur grundlegenden Leistung des Buches zurückkehren: Es kommt zu einem denkbar wichtigen und richtigen Zeitpunkt. Seit langem ist die Lehrer/-innenbildung nun wieder in eine Umbruchsphase gekommen, die mit Sicherheit nicht so rasch zu Ende sein wird. Für die Auseinandersetzungen, Planungsarbeiten, Umsetzungen, die noch zu erwarten sind, bietet der Band Argumentationshilfen und Anregungen für eine breit gestreute Klientel. Wollen sich Erziehungswissenschaft, Fachwissenschaft und Fachdidaktik (in Wort und Tat) als Trias begreifen und damit Qualität in der Lehrer/-innenbildung nachhaltig sichern, dann wird es sicher weiterer Sammelwerke dieser Art bedürfen. Ein erster Meilenstein als Richtmaß liegt vor.

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/newsletter-fuer-englisch/paedagogik/detail/lehrerinnen-und-lehrerbildung-braucht-qualitaet-und-wie.html
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