Wolf Hall

Booker 2009

Beruhigt konnte ich am 6.10. um 4h in der Früh feststellen: Ja, ich habe eine signierte Erstausgabe, ja, ich war schon bei der Hälfte des Buches angelangt. Aber trotz subtiler, hymnischer, kenntnisreicher Rezensionen allenthalben ging es mir, als wäre ich im Gobelin-Museum gelande ...

Booker 2009

 

Beruhigt konnte ich am 6.10. um 4h in der Früh feststellen: Ja, ich habe eine signierte Erstausgabe, ja, ich war schon bei der Hälfte des Buches angelangt. Aber trotz subtiler, hymnischer, kenntnisreicher Rezensionen allenthalben ging es mir, als wäre ich im Gobelin-Museum gelandet. Da stehe ich staunend vor der riesigen Fläche, nehme da etwas wahr, bemerke dort etwas Besonderes – weiß aber insgesamt nicht, wie ich das alles in den Griff kriegen soll.

Es ist nicht der Umfang des Buches (jeder Reißer ist heutzutage dicker), es ist vielleicht die Atemlosigkeit des Präsens, die Unvertrautheit mit dem Sujet, das für jemanden wie mich das Lesen schwierig macht. Da helfen auch fünf Seiten Personenverzeichnis nicht viel, heißt doch – so mein Eindruck – jeder Zweite sowieso Thomas.

Aber es kommt nur auf einen an, nämlich auf Thomas Cromwell, von 1532 bis 1540 Staatssekretär und Lordsiegelbewahrer im Dienste Heinrichs VIII. Zuvor war Thomas bei Kardinal Wolsey, dessen Untergang wir in voller Schärfe und Lebendigkeit miterleben.

Der Roman beginnt mit einer großartigen Szene im Jahre 1500, in der der junge Thomas von seinem Vater fast zu Tode geprügelt wird. Diese rohe Gewalt muss einer subtileren weichen; Thomas wird als eine der Figuren, die England nachhaltig verändern, geschildert, ein Aufklärer fast, ein ’spin doctor‘ möglicherweise. Das Buch endet mit der Exekution von Thomas More, fünf Jahre vor Cromwells eigener Hinrichtung (nach der sein Kopf noch eigens gesotten wurde – so viel zur subtileren Gewalt, die sich nicht so leicht durchzusetzen scheint).

Wie gesagt, Mantel entwirft einen breiten, differenzierten historischen Roman (“Beneath every history, another history”), und wer Anglistik studiert hat, wird viele Namen wieder erkennen. Ob das schon Grund zur großen Freude ist, sei dahin gestellt. Ich selbst habe mich zusehends durchkämpfen müssen. Leser/innen aber, die dem niveauvollen historischen Roman gewogen sind, Leser/innen, die beinhart anglophil sind und gleichsam ein Stück der ‚eigenen‘ Geschichte erzählt bekommen, werden vermutlich ihre große Freude an dem Buch haben. Alle anderen mögen sich denken: Robert Bolts Theaterstück ist genug - und sich an einen sehr fetten Orson Welles in der 1966-Verfilmung erinnern. (Thomas Cromwell wurde immerhin einmal von Donald Pleasance gespielt.)

Kurzum – wie schon damals bei „The Line of Beauty“: ein Booker fürs Heimatland, aber keiner, der um die Welt gehen wird.

London: Fourth Estate 2009; pp. 651

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
02.11.2009
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/newsletter-fuer-englisch/gegenwartsliteratur/detail/wolf-hall.html
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