The Sound of My Voice

Eigentlich passt das Buch ja nicht ganz in diese Rubrik, weil es schon mehr als 20 Jahre alt ist – aber neuentdeckt wurde es 2002 von Irvine Welsh, der darauf hinwies, dass es sich bei dem Kurzroman um ein unbeachtetes Meisterwerk der schottischen Literatur handelt. Recht hat er!
Morris ist 37, ...

Eigentlich passt das Buch ja nicht ganz in diese Rubrik, weil es schon mehr als 20 Jahre alt ist – aber neuentdeckt wurde es 2002 von Irvine Welsh, der darauf hinwies, dass es sich bei dem Kurzroman um ein unbeachtetes Meisterwerk der schottischen Literatur handelt. Recht hat er!

Morris ist 37, ein erfolgreicher Manager einer Keksfabrik, Vater zweier Kinder, Besitzer eines schönen Hauses in der Vorstadt und – schwerer Alkoholiker. Natürlich glaubt er, die Welt im Griff zu haben, besonders nach ein paar Gläsern, einer halben Flasche (und klassischer Musik) dazu. Es scheint auch so – aus seiner Perspektive. Wir wissen aber nie genau, ob ihn die Umwelt auch so wahrnimmt. Morris ist ein doppelt trügerischer Erzähler: Nicht nur, dass wir nur seine Sichtweise kennen lernen, Butlin verwendet einen second-person narrator, der uns sofort in Beschlag nimmt und uns letztlich ein gewisses Maß an Empathie abverlangt. "You were at a party when your father died…" – so beginnt der Roman; aber Morris ist eher am Trinken als am Tod interessiert; gleichzeitig sucht er seine Lebensverlängerung in der bürgerlichen Fassade: Die Familie in der Vorstadt soll alles kitten (auch wenn er die Kinder die 'accusations' nennt), aber der Schein trügt. Die absolute Unsicherheit der scheinbar gefestigten Existenz zeigt sich schon in einem Kindheitserlebnis: Morris nimmt von einem Hügel aus Gegenstände als Spielzeug wahr und ist schockiert, als sich diese beim Näherkommen als lebensgroß entpuppen. Die Brüchigkeit, die Unsicherheit des Wahrnehmens und Wahrgenommen-Werdens, all das durchzieht die Welt des Trinkers. Es ist erstaunlich, wie viel an Bobachtungen und Vorfällen Butlin in seinem schmalen Buch untergebracht hat; wie spannend es sich liest, weil wir – nicht zuletzt eben wegen der Erzähltechnik – mit dem Protagonisten ein bisschen mithoffen, obwohl wir wissen müssen, dass dies keine Entzugsgeschichte sein kann. Als Draufgabe gibt es noch Butlins sehr poetische Sprache – kurzum: Es ist eine echte Bereicherung, dieses Buch zu lesen. Höchst empfehlenswert (und ich danke der Studentin, die mich darauf aufmerksam gemacht hat).

London: Serpent’s Tail 2002 (1st 1987)

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.09.2008
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/newsletter-fuer-englisch/gegenwartsliteratur/detail/the-sound-of-my-voice.html
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