The Inner Circle

T. C. Boyle ist ein Romancier, wie man ihn sich nur wünschen kann: gebildet, gründlich, sprachlich immer in Höchstform; und jemand, der einfach eine gute Geschichte zu erzählen weiß, eine Geschichte, die in ihrer Plastizität jeden Film mühelos hinter sich lässt.
"The Inner Circle" ist sein zehn ...

T. C. Boyle ist ein Romancier, wie man ihn sich nur wünschen kann: gebildet, gründlich, sprachlich immer in Höchstform; und jemand, der einfach eine gute Geschichte zu erzählen weiß, eine Geschichte, die in ihrer Plastizität jeden Film mühelos hinter sich lässt.

"The Inner Circle" ist sein zehnter Roman, und er ist ganz und gar der schillernden Person des Dr. Alfred C. Kinsey gewidmet, der in den 40er- und 50er-Jahren mit naturwissenschaftlicher Präzision und besessener Betriebsamkeit sein Leben der Erforschung der Sexualität des "human animal" gewidmet hat. 100.000 Interviews hätte er gern durchgeführt, etwa 20.000 sind es geworden, bevor er 1956 verstarb, nachdem die Skandalisierung rund um sein Buch zur Erforschung der weiblichen Sexualität (1953) schon etwas abgeflaut war. Dem Mann verzieh man ja seine Sexualität mit all ihren Schnörkseln, dass aber die Mütter und Töchter und Ehefrauen auch ein sexuelles Eigenleben dokumentieren ließen, das roch fast nach kommunistischer Unterwanderung.

Wir lernen Kinsey (von den meisten bloß Prok = Professor Kinsey) und seine Frau Mac durch die Erzählung seines Assistenten John Milk, einem fiktionalen Charakter, kennen. John, der eigentlich Literatur studiert hat (etwas, das dem nüchternen Prok seltsam erscheint), hängt bedingungslos an seinem Mentor, führt für ihn tausende Interviews und gehört – wie ein paar andere auch - zum inneren Kreis. Der innere Kreis untersucht nicht nur, führt nicht nur Interviews, sondern ist sozusagen auch mit Selbstversuchen befasst; seine ersten sexuellen Beziehungen hat John zu Prok und Mac, denn schließlich geht es ja nur darum zu erforschen, was mit den "animals rubbing their parts together" passiert. Aber John ist auch sentimental, und er liebt seine Frau Iris wirklich, obwohl die sich dem inneren Kreis verweigert, obwohl sie mit einem anderen Assistenten Proks schlicht und einfach das tut, was Prok als verbreitete Tatsache der staunende Nation überbringt: dass Menschen unentwegt innerhalb, außerhalb, vor der Ehe miteinander schlafen.

Boyle zeigt damit implizit, dass sich die Welt nicht auf das Kinseysche Bewusstsein (immerhin war er ein nüchterner Zoologe) reduzieren lässt. Er zeigt aber auch, von welch immenser Bedeutung seine Arbeit im prüden Nachkriegsamerika war, von welcher Bedeutung sie insgesamt war, denn Kinsey war der Erste, dem wir umfassendes und aussagekräftiges Material verdanken. Er zeigt (und re-konstruiert) auch eine faszinierende, besessene, schillernde Persönlichkeit – und was erfunden ist, ist gut erfunden. Erzählerisch ist die Idee, ihn durch eine Figur wie Milk darzustellen und zu konterkarieren, schlichtweg ausgezeichnet, und der Roman bleibt bis zum Schluss spannend ohne Spannungsliteratur zu sein. Spannender übrigens als die unendlich vielen Statistiken des Dr. Kinsey, denen wir als Jugendliche nachjagten (war das nicht ein Ullstein Taschenbuch?) und die uns meistens bloß wegen der Fragestellungen, nicht wegen der Ergebnisse interessierten. Lesenswert – wie eben alles von Boyle.

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.05.2005
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https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/newsletter-fuer-englisch/gegenwartsliteratur/detail/the-inner-circle.html
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