The Casebook of Victor Frankenstein

Ackroyd kennt sich aus – in der Literatur und in London; in London so sehr, dass dies eine kleine Hommage an die Stadt geworden ist, in der Schmutz, im Gegensatz zum ländlichen Dreck, nicht an der Kleidung haften bleibt. London ist Leben, das Land ist immer wieder schrecklich. Und London ist vol ...

Ackroyd kennt sich aus – in der Literatur und in London; in London so sehr, dass dies eine kleine Hommage an die Stadt geworden ist, in der Schmutz, im Gegensatz zum ländlichen Dreck, nicht an der Kleidung haften bleibt. London ist Leben, das Land ist immer wieder schrecklich. Und London ist voll interessanter Charaktere. Poets and resurrectionists. Die Poeten wollen radikal ein neues Leben, die resucrrectionists bloß an den Leichen verdienen.

Aber eigentlich lernt Frankenstein seinen Freund Shelley in Oxford kennen; doch Oxford ist kein Ort für den Weltverbesserer-Poeten; er kommt zu Victor nach London, lernt dort Harriet Westbrook kennen, flüchtet mit ihr, heiratet sie. Victor arbeitet in der Zwischenzeit still und leise und besessen – und erfolgreich an seinen Experimenten mit Elektrizität. Und in einer grausigen Szene gelingt es ihm endlich, einen frischen Leichnam wiederzubeleben. Der aber, mit übermenschlicher Stärke ausgestattet, wird zu Frankensteins Nemesis, denn er hat Tote wiedererweckt und ist nicht bereit, die Verantwortung zu übernehmen. "Once you create life, you must take responsibility for it," sagt die Kreatur zu Frankenstein. Damit er es nicht vergisst, tötet "das Monster" andere Menschen, so zum Beispiel Harriet.

Shelley flüchtet zu den Godwins, heiratet schließlich Mary, sie folgen Byrons Einladung in die Schweiz; Victor kommt mit und findet in Polidori einen interessanten Gesprächspartner; während die Romantiker ihr allseits bekanntes Schicksal leben (mit der Ausnahme, dass Mary keinen Frankenstein-Roman schreibt), versucht Victor den Kreationsprozess umzudrehen. In einer fulminanten Schlussszene begegnet er Polidori dabei – und Ackroyd versetzt der Geschichte eine letzte Wendung, mit der wir eigentlich nicht gerechnet hätten.

Die menschliche Natur, wie sie Shelley, Byron, Wordsworth etc. sehen – und die menschliche Natur, wie sie Frankenstein sieht, das ergibt ein reizvolles Zusammenspiel in einem Roman, der mit allen Versatzstücken der Romantik spielt, der dem Frankenstein-Mythos eine interessante Wendung gibt, der vor Stevenson schon die gespaltene Psyche beschwört.

Es ist für mich immer ein Vergnügen, ein Buch von Ackroyd zu lesen. Bei ihm werden nicht nur (fiktive) Menschen lebendig, bei ihm werden vor allem Schauplätze lebendig. Mit einem schier umfassenden Wissen an Details, einer verlässlich-ziselierten Sprache, einem Sinn für Dramatik sorgt er jedes Mal für ein Leseerlebnis. Empfehlenswert!

London: Chatto & Windus 2008

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.12.2008
Link
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