The Accidental

In der ersten Szene des Buches wohnen wir einer Filmvorführung von Ken Loachs "Poor Cow" bei, in der Terence Stamp eine Hauptrolle spielt. Terence Stamp begegnet uns indirekt wieder, denn er ist der schöne Jüngling, der ein Jahr später (1968) in Pasolinis "Teorema" die Familie verführt. Seiner R ...

In der ersten Szene des Buches wohnen wir einer Filmvorführung von Ken Loachs "Poor Cow" bei, in der Terence Stamp eine Hauptrolle spielt. Terence Stamp begegnet uns indirekt wieder, denn er ist der schöne Jüngling, der ein Jahr später (1968) in Pasolinis "Teorema" die Familie verführt. Seiner Rolle nicht unähnlich ist die von Amber, der mysteriösen Fremden, die plötzlich im Ferienhaus der Familie Smart auftaucht. Eve (42), Autorin von semidokumentarischen Büchern, nimmt an, sie sei eine Studentin ihres Mannes Michael, eines äußerst gebildeten Literaturprofessors, der fast zwanghaft mit seinen Studentinnen schläft; Michael hinwiederum nimmt an, Amber sei eine Journalistin, die seine Freu interviewen will. Aber auch nachdem sich der Irrtum aufgeklärt hat, bleibt Amber bei ihnen, denn die zwölfjährige Astrid, unglücklich, obsessiv mit ihrer Kamera beschäftigt, scharf beobachtend, alles als "substandard" empfindend, wird von einer großen Zuneigung zu Amber erfasst. Magnus (17), suizidgefährdet, von Schuldgefühlen geplagt, seine Welt mit mathematischer Sprache begreifend, wird von Amber verführt und aus einem persönlichen Gefängnis entlassen. Michael ist von ihr verzaubert (ein gelungenes Spiel mit Sonetten verdeutlicht dies), Eve wird von ihr in eine harsche Wirklichkeit zurückgeholt; nachdem Amber die Leben durcheinander gewirbelt hat, verschwindet sie. Jedes der vier Familienmitglieder ist nun – nolens, volens – in eine eigene Freiheit entlassen, in der es sich zurechtfinden kann/muss.

Was hier wie eine simple Geschichte klingen mag, ist natürlich viel komplexer und kunstfertiger – aber das war ja von Ali Smith zu erwarten. Der Roman zerfällt in drei fast gleich lange Abschnitte: Beginning, Middle, End – noch dazu, ungeachtet des Satzes von Godard, dass die Reihenfolge nicht so sein müsse, in fast linearer Form. Was wir aber hören, ist ein Mosaik von Stimmen. Es beginnt mit Astrid, die einem sofort sympathisch gemacht wird und die man, als die Erzählung zu Magnus wechselt, vorderhand vermisst. Aber Smith führt ihre Charaktere immer wieder kunstvoll zusammen, und es tut einem Lied, sich nach 300 Seiten schon wieder von ihnen verabschieden zu müssen, weil Smith es schafft, sehr lebendige und scharf gezeichnete Personen agieren zu lassen (Magnus mag noch der farbloseste sein), weil sie es schafft, trotz komplexer Narration, eine große Spannung aufzubauen, eine absolute Neugierde dafür, wie es den Personen ergeht und ergehen wird. Gleichzeitig ist das Buch vollgestopft mit klugen Anspielungen, unterhaltsamen Beobachtungen, Verweisen aller Art, sodass ein Werk für Leser/-innen entsteht, die sich auch ein bisschen am eigenen Wissen freuen können oder zumindest das Gefühl haben, mit Ali Smith gemeinsame Bildungsvergangenheit zu teilen. Daher ist mein Lieblingsabschnitt jener, der Anfang und Mittelteil voneinander trennt, in dem Amber vorwiegend anhand von Anspielungen auf die Filmwelt über ihre (immerwährende?) Geburt berichtet.

Alles in allem ist "The Accidental" ein sprachlich ganz ausgezeichnetes, vieldimensionales, kluges und klug durchdachtes Buch, das vielen Leserinnen und Lesern vielerlei Facetten bietet, sofern diese gewillt sind sich auf Literatur (ja, mit 'capital L'!) einzulassen.

 

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.12.2005
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/newsletter-fuer-englisch/gegenwartsliteratur/detail/the-accidental.html
Kostenpflichtig
nein