Never Let Me Go

Ishiguro war niemals ein Autor zum raschen Drüberlesen – das verbietet allein schon seine Sprache, die sehr präzise und durchdacht ist. Aber auch die Bewusstseinszustände, die Abläufe, die Stimmungen, die dargestellt werden, ergeben ein fein ziseliertes Gesamtbild, das mit der Komponiertheit und ...

Ishiguro war niemals ein Autor zum raschen Drüberlesen – das verbietet allein schon seine Sprache, die sehr präzise und durchdacht ist. Aber auch die Bewusstseinszustände, die Abläufe, die Stimmungen, die dargestellt werden, ergeben ein fein ziseliertes Gesamtbild, das mit der Komponiertheit und Klugheit des Romans korreliert.

Auch in diesem subtilen Buch lässt Ishiguro seine Leser/-innen nur langsam an das Thema heran. Wir lesen von Kindern in Hailsham House, einer Enklave, die offensichtlich unseren Protagonistinnen Kathy und Ruth und unserem Protagonisten Tommy eine glückliche Kindheit beschert. Aber bald schon beschleicht uns das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmt, dass hinter dem ruhigen Erzählfluss mehr verborgen ist. Kathy H., nunmehr einunddreißig, ist seit fast zwölf Jahren ein "carer" und sie erinnert sich an die gemeinsame Vergangenheit mit Ruth und Tommy, beide "donors". Erst allmählich wird uns klar, dass sie Organspender sind, dass hier vom Thema Klonen die Rede ist, dass die Klone Erzähler und Akteure sind. Der Roman erzählt jedoch nicht so sehr von Klonen oder Organspenden, sondern von Staunen und Nicht-Verstehen; etwas ratlos treten die Klone der Welt gegenüber, Alltagshandlungen verwirren sie bisweilen; rastlos auch treten sie der Welt gegenüber, auf einer ziellosen Suche nach ihren "possibles", nach denen sie geformt sind. Mit Verbissenheit widmen sie sich dem Sex – und der Suche nach Liebe und Kunst&Kreativität, denn diese bedeuten Aufschub und Weiterleben.

Wir teilen die Verwirrtheit und Verlorenheit der Klone; wir sind auf Kathi angewiesen um uns zurecht zu finden, und wenn sie uns als Erzählerin im Stich lässt, dann treiben wir durch den Roman wie die Klone durch die Welt. Ishiguro macht uns – nicht zuletzt durch zahlreiche Verzögerungen und durch das Verweigern klarer Erzählschritte – das Begreifen nicht leicht; und das ist wohl Absicht, denn so tasten wir uns durch ein Buch, bei dem wir uns zusehends ausgesetzter fühlen und bei dem sich allmählich ein Schrecken dadurch einschleicht, dass die gewohnte Wirklichkeit immer wieder nur wenig merkbar verschoben wird. Über dem gemächlichen Erzähltempo liegen Hunger nach Beständigem und Trauer über alle möglichen Arten von Verlust. Mehr als jeder Schauerroman verdient "Never Let Me Go" (auch so ein vergeblicher Wunsch) das Attribut "haunting". Ishiguros neuer Roman lässt einen, gerade weil man das Gefühl hat, an Grenzen des Verstehens zu kommen, auch nach der Lektüre nicht wirklich gehen.

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.09.2005
Link
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