Last Night in Twisted River

Es ist mir ja mittlerweile ein Rätsel, warum ich so lange kein Irving-Fan war; sein letzter Roman („Until I Find You“, s. Archiv) hat mich schon sehr für ihn eingenommen und der vorliegende steht ihm um nichts nach.
Iriving ist schlicht und einfach ein genialer Geschichtenerzähler. Nach den 600 ...

Es ist mir ja mittlerweile ein Rätsel, warum ich so lange kein Irving-Fan war; sein letzter Roman („Until I Find You“, s. Archiv) hat mich schon sehr für ihn eingenommen und der vorliegende steht ihm um nichts nach.

Iriving ist schlicht und einfach ein genialer Geschichtenerzähler. Nach den 600 Seiten kann man erschöpft und zufrieden aufseufzen und sich fragen: Wo nimmt er das alles bloß her? Und baut dann noch ein paar Schlenkerer um Identität und gespiegelte Autobiographie ein. Und kommentiert US-Amerikas politisches Selbstverständnis in gebrochener Form (wenn etwa eine der Frauen aus Twisted River die Zerstörung der Twin Towers glossiert.)

„ […] Danny knew how stories were marvels – how they simply couldn’t be stopped,“ heißt es Ende des Romans. Danny, nunmehr, im Jahre 2005, ein bisschen über 60 und ein höchst erfolgreicher Schriftsteller, lernen wir zum ersten Mal 1954 in Coots County, New Hampshire, kennen. Der Roman beginnt damit, dass ein Junge bei den Flößern stirbt – Ketchum, herrlich-abenteuerliche Figur des Romans (fast wie von James Fenimore Cooper), ist dabei. Desgleichen Cookie (der Koch der Ansiedlung Twisted River) und sein zwölfjähriger Sohn Danny. Das wilde Leben dort kommt zu einem jähen Ende, als Danny irrtümlich die Freundin seines Vaters tötet. Ab nun beginnt eine Irrfahrt, denn der Sheriff des Ortes, ein übler Trunkenbold, macht sich auf die Suche nach den beiden Flüchtigen. Wir begleiten sie nach Boston, nach Vermont, nach Toronto; nach Cookies Tod finden wir uns noch einmal in Coots County wieder; und zu einem fast kitschigen Ende sind wir in Ontario. Wir begleiten die Charaktere aber nicht nur zu diesen Schauplätzen, wir begleiten sie durch ihr Leben, das von so vielen Verzweigungen, Geschichten, Glücks- und Unglücksfällen, von so vielen Überfiguren (Ketchum) und liebenswerten Nebenfiguren begleitet wird, dass jede Inhaltsangabe nur ein Schatten des eigentlichen Geschehens sein kann.

Irving kann, wie schon gesagt, schlicht und einfach eine sich verzweigende und doch wieder zu sich selbst zurückkehrende Geschichte erzählen. Das sagt er auch in seinem Nachwort: Er hat vom 19. Jahrhundert gelernt, und was ihm wichtig erscheint, ist plot, plot, plot. Ich weiß, es gibt Leute, die schon lange den Tod des Romans postuliert haben, aber wenn der Tod so aussieht, dann ist er wohl auszuhalten. Das Reizvolle an diesem Roman ist jedoch auch das Spiel mit der Identität – nicht wegen des Versteckspiels (das gehört auch dazu), sondern wegen der Erzählperspektive. Auf subtile (aber oft wiederholte) Weise wechselt Irving zwischen Danny und the writer; so beginnen Grenzen zu verschwimmen und plötzlich ist das Leben ein Roman, das bisweilen wie der wilde Fluss Androscoggin dahinfließt.

Ich halte das für einen erhebenden und tröstlichen Gedanken!

London: Bloomsbury 2009; pp. 554

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Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.09.2010
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