Gilead.

Robinsons zweiter Roman ist 2004 in Amerika erschienen und hat – hierzulande wenig beachtet – den Pulitzer-Preis gewonnen; dafür sind die amerikanischen Kritiken umso hymnischer, vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil Robinson ihre Leser/-innen in ein verlangsamtes, "gutes" Amerika zurückführt.
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Robinsons zweiter Roman ist 2004 in Amerika erschienen und hat – hierzulande wenig beachtet – den Pulitzer-Preis gewonnen; dafür sind die amerikanischen Kritiken umso hymnischer, vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil Robinson ihre Leser/-innen in ein verlangsamtes, "gutes" Amerika zurückführt.

Wir schreiben das Jahr 1956 und befinden uns in Gilead, einem Kaff in Iowa. Dort sitzt, etwas angekränkelt, der 77-jährige Reverend John Ames und schreibt an seinen siebenjährigen Sohn aus zweiter Ehe, den er nie wirklich kennen lernen wird. Ames, der in seinem Leben etwa 250 (fiktive) Bände mit Predigten füllte, arbeitet gemächlich an seinem Vermächtnis, und wir, als Leser/-innen, müssen uns plötzlich auf das Tempo eines alten Mannes, auf die Psyche eines mild-rechtschaffenen Menschen, auf einen typisch-amerikanischen Schauplatz, wie wir ihn aus Schwarz-Weiß-Filmen mit ihrer "lazy Sunday afternoon"-Stimmung kennen, einstellen. Das ist das eine Geheimnis Robinsons: Die liebevoll gemalte kleine Welt ist ein in sich geschlossener Kosmos mit seinen eigenen Traditionen, seinen eigenen Spielregel-Verletztern, seine eigenen Aufgeregtheiten und Zufriedenheiten. Aber letztendlich gilt: Ja, "there is balm in Gilead." Das andere Geheimnis ist die lyrische Sprache; auch sie vermittelt einem das Gefühl aufgehoben zu sein; und wer die religionsbestimmte Welt schätzt, der muss ja die Lektüre als stete Heimkehr empfinden, als eine Einlösung des Novalis-Wunsches von: "Wohin gehen wir? – Immer nach Hause."

Ames berichtet also von seinem Vater und seinem Großvater, der eine Pazifist, der andere eine kontroversielle Figur zur Zeit der Sklavenbefreiung. Er berichtet von seinen Auseinandersetzungen mit seinem Namensvetter John Ames Broughton, Sohn seines besten Freundes, eines presbyterianischen Predigers. Er schreibt über den Glauben, den Alltag, die staubigen Straßen, die reparierten Zäune – und wenn Clint Eastwood einen ruhigen Film mit langen Einstellungen und Kamerafahrten machen wollte, er hätte hier eine Vorlage gefunden, die Glück und Traurigkeit eines Mikrokosmos zeigt.

Nicht dass mich das Pastorale (double pun intended) so sehr reizt, aber Robinson entwickelt doch eine eigene Magie, und das Buch gerät unversehens zur Spannungsliteratur, ohne dass es mehr als die Spannungen des Alltags bietet. Schon allein deswegen lesenswert, weil es sich gegen die übermächtig raunende, sich endlos verzweigende Familiensaga-Literatur stellt.

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
13.06.2005
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/newsletter-fuer-englisch/gegenwartsliteratur/detail/gilead.html
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