English Passengers

Fast ist mir, als hätte ich eine Teil der Reise selbst mitgemacht; nachdem ich TAGELANG an diesem einen Buch gelesen hatte, raffte ich mich zu einem Kraftakt auf - und legte das Buch erschöpft-zufrieden um eins in der Nacht zur Seite.
Gereist wird wahrlich viel in diesem historischen Roman, der ...

Fast ist mir, als hätte ich eine Teil der Reise selbst mitgemacht; nachdem ich TAGELANG an diesem einen Buch gelesen hatte, raffte ich mich zu einem Kraftakt auf - und legte das Buch erschöpft-zufrieden um eins in der Nacht zur Seite.

Gereist wird wahrlich viel in diesem historischen Roman, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts spielt. Das wäre auch nichts Besonderes, aber Kneale hat eine kleine erzähltechnische Meisterleistung vollbracht. Etwa 20 Charaktere erzählen die Geschichte so, dass eine Erzählung fugenlos in die andere greift, dass die Ereignisse herum- und weitergewirbelt und dann wieder von einem vertrauten Erzähler aufgegriffen werden.

Einen durchaus sympathischen Ersterzähler haben wir in Captain Illiam Quillian Kewley, der mit seinem Schiff Sincerity ein einträgliches Schmuggelgeschäft zwischen Frankreich und der Isle of Mann unternimmt. Der Kapitän und seine Mannschaft, alles Manxmen, sehen sich aber alsbald vom britischen Zolle verfolgt und nehmen einen Auftrag an, um den Häschern zu entkommen: Sie sollen Reverend Geoffrey Wilson nach Tasmanien bringen, denn dieser - Gegner der gottlosen Geologie - hat sichere Anhaltspunkte, dass dort vor 6000 Jahren das biblische Paradies war; begleitet wird er vom Hobbybotaniker Renshaw und vom seltsamen Dr Thomas Potter, der in seinen Tagebüchern und Rassen-Notizen von sich nur als von self spricht.

Gleichzeitig sind wir im Tasmania von 1828 und erleben, vorwiegend durch die Stimme des Ureinwohners Peevay, die Kolonialisierung Australiens (und damit des Van Diemen Landes) mit. Durch ihn, aber auch durch die Usurpatoren, erfahren wir, mit welcher Grausamkeit und mit welchem Unverständnis eine fremde Kultur europäisiert werden soll (primär durch Religion und Infektionskrankheiten!)

Peevay wird auch zum Bindeglied zwischen den Zeitsträngen, denn erst spät greift er wieder zum Kampf, den seine Mutter ihn gelehrt hat, zurück; zu lange hat er versucht, den weißen Mann zu verstehen, um ihn besser bekämpfen zu können.

Kneale hat erstens gründlich für dieses Buch recherchiert; zweitens hat er allen Charakteren unverwechselbare Stimmen gegeben, und es fällt schwer zu sagen, welche die beste ist: Kapitän Kewley ist der sympathische rogue, der mit seiner Mannschaft viele Manx-Wörter beisteuert; Reverend Wilson ist so naiv-selbstgefällig-komisch, dass er allein durch seine Wortwahl höchst lebendig wird; Potter ist verbohrt-gefährlich, die wenigen Frauen sind empfindsam, die Briefe diverser Machthaber und Unterläufel gestelzt etc. etc. Am aufregendsten aber liest sich Peevay, von den Kolonisatoren Mr Cromwell genannt, denn er verdinglicht den alten Papalagi-Trick: Seine Weltsicht wirkt so klar und einleuchtend im Gegensatz zur religiös-pompösen der Weißen, dass er nur unsere Sympathien haben kann.

Kneale versteht es, uns zu unterhalten, gleichzeitig macht er aber die Gräuel des Kolonialismus bewusst; genau diese Mischung aus Realismus und Skurrilität in ihrer Vielstimmigkeit macht die Qualität des Romans aus. Was als einigermaßen beschwerliche Lesekletterung begann, wurde durch eine mitreißende Gesamtschau belohnt, von der ich letztendlich nur schweren Herzens Abschied nahm.

Merken Sie sich das Buch für den Sommer vor!

 

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/newsletter-fuer-englisch/gegenwartsliteratur/detail/english-passengers.html
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