Disgrace

Coetzee hat mit "Disgrace" den Booker Prize 1999 gewonnen, und meines Erachtens hat er ihn verdient gewonnen. Im Gegensatz zur weniger verständlichen Entscheidung des Vorjahres (Ian McEwan mit "Amsterdam") haben die Booker-judges diesmal ein Buch ausgezeichnet, das sowohl inhaltlich vielsch ...

Coetzee hat mit "Disgrace" den Booker Prize 1999 gewonnen, und meines Erachtens hat er ihn verdient gewonnen. Im Gegensatz zur weniger verständlichen Entscheidung des Vorjahres (Ian McEwan mit "Amsterdam") haben die Booker-judges diesmal ein Buch ausgezeichnet, das sowohl inhaltlich vielschichtig, erzähltechnisch wohlgelungen als auch sprachlich meisterlich ist.David Lurie (52) unterrichtet an der Cape Town University; sein Spezialgebiet sind die Romantiker, aber - der Zeichen der Zeit gehorchend - muss er communication skills unterrichten. Seine Studentinnen und Studenten, die einer sprachlosen Generation angehören, finden sich offensichtlich weder im einen noch im anderen Bereich zurecht.
Eines Tages trifft David zufällig auf seine Studentin Melanie, 30 Jahre jünger. David, sein Leben lang ein Frauenheld, verführt sie aus einem erotischen Impuls heraus - Coetzee hat dabei im Übrigen den Katzenjammer des alternden Don Juans meisterlich getroffen. Die Sache fliegt natürlich auf; die Universität, politisch korrekt, bietet David zwar allerlei Formen der Entschuldigung und allerlei Möglichkeiten der Wiedergutmachung an, aber David verweigert dies. Er verliert seinen Job und flüchtet zu seiner Tochter Lucy (25), die am Eastern Cape eine Farm betreibt. Dort verrichtet er Handlangerdienste, löst den Schwarzen Petrus ab (der seine eigene Farm aufbaut), kümmert sich um Alltägliches - und, zu seinem eigenen Erstaunen, um die geschundenen Tiere; hilft auch bei deren Entsorgung mit.
Der triste Alltag wird durch einen Gewaltakt unterbrochen: Drei schwarze Männer dringen in das Anwesen ein, bringen David fast um, stehlen Wertgegenstände und das Auto - und vergewaltigen Lucy, wobei sie sie jahrhundertelangen Hass und Verachtung spüren lassen. David sieht sich noch weiter in den Zustand der Schande verwickelt, ohne zu begreifen, dass seine Schande nur eine persönliche, eine klein dimensionierte ist. Lucy hingegen trägt die Schande von Jahrhunderten...

Coetzees Roman bewegt sich, die Leser/-innen absichtlich unangenehm berührend, zwischen Schande und Vergewaltigungen, Vergewaltigungen innerhalb der Geschichte, Vergewaltigungen der Menschen, der Tiere. Davids kümmerliche Versuche des Verweigerns und Aufbegehrens sind dimensionslos gegenüber der leidvollen Existenz schlechthin. Er verlernt es nicht, sich immer noch wichtiger zu nehmen als er ist, er, jenes Rückzugswesen, geprägt durch den Verlust der Ehre.
Coetzee braucht keine großen Gesten für sein Buch, das mit den verschiedensten Ebenen spielt (gelungene Kontrastierungen zu Byrons Leben etwa); er hat ein meisterliches Buch geschrieben - einen perfekten Brückenbogen in einer unwirtliche Landschaft gesetzt. Die Tristesse der Existenz (und ich vermeide bewusst das Adjektiv "menschlichen") zeigt sich kongenial im Umschlagbild. Life is a dirt road - aber man kann sie entlang gehen.

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
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