Birds Without Wings

Wie passend, dass der neue (und von vielen heiß ersehnte) Roman von de Bernières gerade rechtzeitig für die Sommerlektüre erscheint, denn das gewaltige Panorama, das hier über sechshundert Seiten ausgebreitet wird, braucht seine Zeit.
Seine Zeit wird auch de Bernières für die Recherchen gebrauc ...

Wie passend, dass der neue (und von vielen heiß ersehnte) Roman von de Bernières gerade rechtzeitig für die Sommerlektüre erscheint, denn das gewaltige Panorama, das hier über sechshundert Seiten ausgebreitet wird, braucht seine Zeit.

Seine Zeit wird auch de Bernières für die Recherchen gebraucht haben, denn ein gleichsam historischer Roman mit Tiefgang kann nicht aus dem Ärmel geschüttelt werden. Dafür war es wohl notwendig u.a. das Leben im ottomanischen Reich, den Werdegang des Mustafa Kemal, die Schlacht von Gallipoli, aber auch den Alltag in einem (heute türkischen) Dorf mit seinen religiösen und gesellschaftlichen Unterschieden genau zu studieren.

Die Unterschiede, die plötzlich neu wahrgenommen werden (müssen), sind es auch, die dem Roman die Dramatik verleihen. In Eskibahaçe im südwestlichen Anatolien leben die Menschen am Ende des 19. Jahrhunderts einigermaßen friedlich miteinander: die islamische Gemeinschaft respektiert die christliche und umgekehrt. Die Armenier sind genauso akzeptiert wie die vereinzelten griechischen Nationalisten; und auch für den Gottlosen, die Verrückten, den Säufer findet sich ein Platz. Der Imam und der Pfarrer wachen darüber, dass es keine größeren Entgleisungen gibt, der Landherr, Rustem Bey, achtet auf die Gesetze der Wohltätigkeit und der Gastfreundschaft.

Von dort erzählt uns Iskender der Töpfer; wir erfahren von der Geburt der schönen Philotei, von der ergebenen Liebe Ibrahims zu ihr, von den Freunden Karatavuk und Mehmetiçik. Wir verfolgen die Schicksale von Vater Kristoforos und Abdulhamid Hodja. Wir erleben mit, wie Rustem Bey seine Frau des Ehebruchs überführt und wie er später in Smyrna eine kaukasische Geliebte kauft. Dazwischen aber begleiten wir Mustafa Kemal bei seinem Weg zur Macht. Das bedeutet natürlich zahlreiche Scharmützel und Kriege, und das bedeutet auch die ersten Trennungen. Der Muslim Karatavuk zieht in die Schlacht nach Gallipoli (von der uns de Bernières schreckliche Schilderungen liefert), der Christ Mehmetiçik kommt zu den Pionieren, flüchtet aus diesem Elend und wird Bandit. Auch Ibrahim muss fort, und als er viele Jahre später zur ihm treuen Philotei zurückkehrt, ist er ein anderer und es kommt zur Katastrophe. Und so verfolgen wir eben zahlreiche Einzelschicksale vor dem Hintergrund der Umgestaltung einer Welt. Da gibt es, wie gesagt, schreckliche Szenen, da gibt es (kalkuliert) berührende Szenen, etwa wenn Hodja stirbt, da gibt es großartige Darstellungen des Alltags, da gibt es Abrisse der damaligen Politik. Die schöne Philotei, die dazwischen immer wieder zu Wort kommt, ist vielleicht als Figur unbedeutend, aber sie verleiht dem Ganzen jene sehnsuchtsvolle Trauer, die mit der Unwiederbringlichkeit und dem Untergang verbunden ist.

Über all dem steht die klare Botschaft: Die Menschen würden schon miteinander auskommen, wenn man sie nur ließe. Aber sobald sich die Politik einmischt, sobald Eitelkeiten von Bedeutung werden, werden Unterschiede sichtbar, wenn nicht gar konstruiert. Plötzlich erfahren die Christen von Eskibahaçe, dass sie eigentlich Griechen sind und ihre kleine Stadt verlassen müssen – und niemand kann sie gegen diesen Willkürakt schützen. Und plötzlich tun Menschen wie Ibrahim, dessen Leben einst nur durch seine Liebe zu Philotei bestimmt war - Dinge, die sie nie für möglich gehalten hätten.

Dieses Ausgeliefertsein an die Geschichte ist ein Aspekt der Titelmetapher. Der andere ist die begrenzte Möglichkeit. Was hätte aus diesen Menschen nicht alles werden können, hätten sie die Möglichkeiten zur Entfaltung gehabt. Was hätten Ibrahim und Philotei nicht für ein glückliches Leben führen können? Philotei, die von Ibrahim einen Vogel ohne Schwingen geschenkt bekommt, führt genau so ein Leben: auf den ersten Blick schön, aber ihrer Möglichkeit zur Entfaltung benommen. Und im Grunde genommen entgeht kaum jemand der Begrenzung, weil es offensichtlich teil der condition humaine ist.

De Bernières hat im Gegenzug mit dem Epischen nicht gespart, er entfaltet die Erzählung, so ausführlich es nur geht. Das ist im Grunde genommen ein Vorteil, obwohl man natürlich fragen muss, wie vieler Mosaiksteine es nun wirklich bedarf um ein Bild entstehen zu lassen. Aber wenn wir auch manchmal einen Erzählweg mitgehen, von dem wir nicht sicher wissen, warum wir das tun, werden wir doch mit einer Vielzahl interessanter und Neugier erweckender Kapitel entschädigt. Dass die 'human interest' Seite des Romans gelungen ist, versteht sich, da ist de Bernières Profi genug. Dass das Buch aber auch als historischer Roman funktioniert, ist vielleicht der entscheidende Grund, es sich bei nächster Gelegenheit vorzunehmen.

 

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
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