48 Clues into the Disappearance of My Sister
Autor OATES, Joyce Carol
Verlag London: Head of Zeus 2023
Oates (84) hat mittlerweile mehr Bücher geschrieben, als viele Menschen in ihrem ganzen Leben lesen. Das Thema Verschwinden taucht schon in einem ihrer früheren Romane („Carthage“, s. Archiv) auf, aber diesmal wird es besonders irritierend dargestellt.
Marguerite Fulmer (kurz M. genannt), Erbin und anerkannte Bildhauerin, verschwindet im April 1991 mit 30 aus dem kleinen Ort Aurora-on-Cayuga (nördlich von New York). M. ist die schöne, viel geliebte Tochter, Freundin, Künstlerin; erzählt wird ihre Geschichte vom hässlichen Entlein, der jüngeren Schwester Georgene (genannt Gigi). Von Anfang an ist klar, dass Gigi, hasserfüllt auf alles und jeden, eine unzuverlässige Erzählerin ist. Mehr als die Suche nach M. schildert sie, wie sie und ihr Vater wenig Interesse an den Bemühungen einer Wahrsagerin und eines Privatdetektivs haben, das Rätsel zu lösen; strikt unterbindet Gigi, dass das Anwesen durchsucht wird – und als es doch zu brenzlig wird, weiß sie sich zu helfen.
Gigi ist nicht abgeneigt, Kontakte zu knüpfen, wenn auch in sehr loser und kurzer Form, etwa mit dem Künstler Elke, der behauptet, er sei M. sehr nahe gestanden. Aber wem immer sich Gigi nähert, sie wird zurückgewiesen.
Die ‚48 clues‘, die sie uns anbietet, unterliegen sehr ihrer Willkür, und wir dürfen uns stets überlegen, was M. wirklich widerfahren sein könnte. Ein zufälliger durchreisender Serienmörder? (Oates fügt eine Passage über ermordete und verstümmelte Frauen ein.) Ein geplantes Verschwinden? Ein Verbrechen? Etwa gar von Gigis Hand? Wir können uns am Schluss entscheiden – obwohl eine Entscheidung sehr forciert wird.
Oates hat keinen Thriller geschrieben, aber es wurde dennoch ein atemlos-mysteriöses Werk. Nicht zufällig hat sie das Buch Otto Penzler, dem Gründer der MysteriousPress, gewidmet.
pp. 297 (Gegenwartsliteratur)