4 3 2 1
Autor AUSTER, Paul
Verlag New York: Henry Holt and Company 2017
Ich habe kein Problem mit Auster! Die Kritikerinnen und Kritiker offensichtlich schon. Im TLS wird ihm sogar bescheinigt, angesichts der Mühen der langen Lektüre fehle dem Roman „rhythm, tone, vivacity, wit.“ Dass es vier Dinge sind, soll offensichtlich beweisen, dass der Kritiker geistreich ist.
Dass ein Drittel der Rezension eifrig Austers frühere Werke mitkritisiert, soll offensichtlich zeigen, dass der Kritiker belesen ist.
Ich habe von Austers zahlreichen Romanen nur ein halbes Dutzend gelesen, daher hege ich keinen Groll, und ich habe mich mit Vergnügen in das Abenteuer von „4 3 2 1“ gestürzt, noch dazu, wo alles wie ein ausufernder Familienroman beginnt – und von der ausufernden Art hätte ich ja in letzter Zeit einige gelesen (Jergovich, Haratischwili, Proulx). Austers Buch beginnt mit dem 23. März 1947, an dem Archibald Ferguson in Newark, New Jersey, geboren wird (fast gleichzeitig mit Auster). Vorher aber erfahren wir vom Einwandererschicksal der Großeltern, von der Ehe der Eltern. Aber schon dort beginnen sich die Wirklichkeiten zu teilen. Wir verfolgen vier Archies, immer in entsprechenden Sektionen (1.1., 1.2, 1.3, 1.4 bis zu 7.4). Das ist durchaus clever-postmodern (oder post-postmodern), wie es sich für Auster gehört, und es ist auch spannend, weil damit klarerweise ‚cliffhanger‘ eingebaut sind. Da muss man schon in Kauf nehmen, dass die Archies ein bisschen verschwimmen, aber man kann sich damit behelfen, dass man sagt: Ach, der Acht-Finger-Archie, ach, der Pariser Archie. In 7.4. erfährt man sowieso, dass Archie 4 einen Roman geschrieben hat, in dem er neben sich drei andere Archies die 60er-Jahre auskosten lässt (oder fast auskosten lässt). 7.4. hat also einen Roman geschrieben, der – Sie haben es erraten – so heißt wie der vorliegende Roman.
Auster hat, soweit ich das mitbekommen habe, viel vom echten Auster in seine Figuren hineingepackt, und die professionelle Kritik kann das sicher minutiös nachweisen. Er hat auch viel Bildungsbürgertum hineingepackt, die meisten Figuren sind pures jüdisches Bildungsbürgertum, die sich an den 100 besten Romanen der Weltliteratur abarbeiten, coole Fotos machen, Kleist schätzen, über Beethoven schreiben… kein Wunder also, dass der neunjährige Archie bei Billie Holiday eine Träne vergießt. Austers Obsession mit Listen stößt bei mir auf kein taubes Ohr, ich nicke wohlgefällig bei den französischen Lyrikern oder den vielen, vielen Filmen, die Archie 3 mit seiner Mutter sieht. Alles in allem wird also der bildungsbürgerlich geschulte Leser gut bedient; gleichzeitig ist politisch alles da, was man so aus der Erinnerung kennt, vor allem der alles überschattende Vietnam-Krieg. Und immer wieder greift Auster in die Trickkiste, bei Leben, Lieben, Sterben. Dass ein Tod dem von R.D. Brinkmann ähnelt ist entweder Zufall oder doch ein bisschen platt.
Sei’s drum – Auster versorgt uns mit einem dicken Roman, in dem wir viele Figuren treffen, von denen wir das Gefühl haben, dass wir sie schon wo gesehen haben, dass man sich so trifft und wieder auseinandergeht. Dass man dann über irgendwelche Verwandten hört, was eigentlich aus Archie und Amy geworden ist; oder aus Archie und Celia oder…Der Trick dabei ist, dass vier Archies immer vor dem Problem stehen: „[…] you’ll never know if you made the wrong choice or not.“ Austers Roman erweitert durch seine vier Protagonisten die Wahlmöglichkeiten. Und das ergibt ein schönes Spektrum; kein großer Wurf, aber ein weiter Wurf!
pp. 866