11/22/63

Fast hatte ich befürchtet, ich würde nicht die Zeit dazu finden, Kings neuen Roman zu lesen – wenig Zeit, fettes Buch! Und wie sehr interessiert mich schon die Kennedy-Geschichte? Aber erfreulicherweise kam alles anders. Ich habe begonnen – und konnte nicht mehr aufhören. Und ja, der Protagonist ...

Fast hatte ich befürchtet, ich würde nicht die Zeit dazu finden, Kings neuen Roman zu lesen – wenig Zeit, fettes Buch! Und wie sehr interessiert mich schon die Kennedy-Geschichte? Aber erfreulicherweise kam alles anders. Ich habe begonnen – und konnte nicht mehr aufhören. Und ja, der Protagonist will Lee Harvey Oswald stoppen – aber das ist beileibe nicht die Hauptsache in diesem wunderbaren Band von zeitverschobenem Walmart realism.

Was King für smalltown America geleistet hat, leistet er wieder – diesmal aber für den Zeitraum von 1968 bis 1963 (mit jeder Menge cameos aus seinen früheren Büchern). Aber der Reihe nach:

Jake Epping ist ein Englischlehrer in Lisbon Falls, Maine und seine Geschichte beginnt im September 2011, als ihm der Besitzer von Al’s Diners einen Weg in die Vergangenheit zeigt. Al hat Oswalds Geschichte genau recherchiert, ist sich aber nicht hundertprozentig sicher, dass Oswald ein Einzeltäter war. Und wie sehr kann Geschichte korrigiert werden? Um das herauszufinden, reist Jake zuerst nach Derry, um einen Mann zu stoppen, der eines Tages seine Frau und seine Kinder mit einem Hammer erschlägt. Ein Teil des Buches ist dieser Reise gewidmet, in ein Derry, das fast noch schrecklicher ist als das in “IT” geschilderte. (Die Leute in Derry müssen King ja lieben…)

Das Problem ist: Jede Reise, die 2011 exakt zwei Minuten dauert, ist offensichtlich ein Reset. Al konnte dasselbe Fleisch für seine Burger immer wieder neu kaufen, ohne dass sich jemand an ihn erinnerte. Wie auch immer – nach dem Experiment reist Jake ins Jahr 1958 und verbringt fünf Jahre vorwiegend in der Kleinstadt Jodie, wo er unterrichtet, eine erfolgreiche Theatergruppe gründet und – Sadie, eine junge Bibliothekarin, die ihr eigenes Trauma mit sich herumträgt, kennen und lieben lernt.

Es sollte also klappen, den Mord an Kennedy zu verhindern – aber die Vergangenheit weiß sich gegen Umstrukturierungen zu wehren. Sadie wird von ihrem Ex verfolgt, Jake widerfahren immer mehr Missgeschicke. Im atemberaubenden Finale bei Kennedys Besuch in Dallas nehmen die Dinge eine neue Wendung – und damit ist Jakes Mission noch nicht erfüllt.

Ich will nicht mehr verraten, denn King hat eine wunderbare Mischung aus Science fiction, Alltagshorror – und Alltagsglück geliefert; und das Schöne ist, dass bei jeder großen Trauer auch noch ein Hoffnungsschimmer zu sehen ist.

Die eigentliche Leistung aber ist die Gegenüberstellung des Öffentlichen und des Privaten mit so unglaublich viel Lokalkolorit, das von US-Leserinnen und –lesern natürlich noch viel mehr geschätzt werden kann als von mir. Das Schöne ist auch, wie ausgezeichnet King die Brüchigkeit der Welt zeigt – an den kleinen Schrecklichkeiten viel eher noch als an den großen. Der Besenstiel, der zwischen Sadie und ihrem Ex zu liegen hat, ist das beste Beispiel dafür.

Genug des Lobes – nehmen Sie sich einfach die Zeit! King gehört tatsächlich zu den Meistern seines Fachs (wobei sich die Leute streiten mögen, was das eigentlich ist). Es stimmt, er hat eine Handvoll schlechter Bücher geschrieben – aber uns dafür immer wieder mit etwas Außergewöhnlichem entschädigt. Verbuchen Sie “11/22/63” unter außergewöhnlich!

New York: Scribner 2011; pp. 849

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Veröffentlicht am
01.03.2012
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