When We Were Orphans

"We must face the world as orphans" sagt Ich-Erzähler Christopher Banks an einer Stelle des Romans; ob dies der eigentliche Kernpunkt ist, sei dahingestellt, denn die orphanization, denen die Protagonisten/-innen ausgesetzt sind, ist so sehr Triebfeder ihres Handelns, dass der negative Grundton ...

"We must face the world as orphans" sagt Ich-Erzähler Christopher Banks an einer Stelle des Romans; ob dies der eigentliche Kernpunkt ist, sei dahingestellt, denn die orphanization, denen die Protagonisten/-innen ausgesetzt sind, ist so sehr Triebfeder ihres Handelns, dass der negative Grundton der Äußerung obsolet wird.

Banks in den 30er-Jahren eines noch mächtigen Englands: Er ist der berühmteste Detektiv des Landes geworden, wird bei Empfängen und Gesellschaften herumgereicht, lernt zahlreiche wichtige Leute kennen, unter ihnen Sarah Hemmings (verwaist natürlich), die von Empfang zu Empfang zu driften scheint und auf ihn eine gewisse Faszination ausübt.

Allmählich erfahren wir mehr über Christophers Vergangenheit. Er ist in Schanghai, in der 'internationalen Kolonie' aufgewachsen, eng seinem japanische Freund Akira verbunden; eines Tages verschwindet sein Vater, alsbald wird auch seine Mutter entführt; wir vermuten, der Kampf seiner Mutter gegen den Opiumhandel, in den auch die englische Firma, in der sein Vater arbeitet, verwickelt ist, spielt eine Rolle beim Verschwinden der Eltern. Christopher wird nach England geschickt – und wir treffen ihn dort als den berühmten Detektiv wieder. Interessanterweise werden die sensationellen Kriminalfälle, die er löst, nur nebenbei und schemenhaft erwähnt; viel eher kreist das Geschehen um Sarah, die sich einen alten Politiker angelt, mit dem sie später nach Schanghai geht, wo ihre Ehe zerbricht.

Auch Christopher kommt dem Enigma, das sein Leben bestimmt, nicht aus. Er meint unbedingt, dass das Verschwinden seiner Eltern der einzig wirklich lösenswerte Kriminalfall ist. Auch er kehrt nach Schanghai zurück (lässt sein Mündel, ein Waisenkind, zurück) und versucht inmitten der Gefechte zwischen Chinesen und Japanern seine Eltern aufzuspüren.

Diese Suche hat etwas Absurdes. Das Buch setzt mit 1930 ein (es folgen Rückblenden), 1937 spielt der zweite Schanghai-Abschnitt, 1958 resümiert Christopher. Dass seine Eltern nach wie vor in einem Haus in Schanghai gefangen gehalten werden, scheint ziemlich unwahrscheinlich, dennoch erzählt Ishiguro so, als flößen die Jahre ineinander; überhöht wird dieses etwas bizarre Zeitkonstrukt durch eine ebenfalls absurd wirkende, wie ein dramaturgischer Eingriff präsentierte Begegnung mit Akira (der uns ebenso machina-haft wieder entschwindet). Allerdings muss festgehalten werden: Bis zur Schanghai-Episode von 1937 ist das Buch ein blendend geschriebenes, aber inhaltliches relativ unbewegliches Sittenbild; mit der Reise zum Rätsel selbst kommt aber auch echte Spannung auf, sodass Ishiguro, der die Gesetze des damaligen Kriminalromans (Christie-Zeit!) gründlich missachtet, plötzlich dennoch Tempo und Kolorit des Genres wahrnimmt. Die Lösung allerdings ist wiederum wesentlich banaler, als ein Poirot sie sich gewünscht hätte.

Was für alle Teile des Buches gilt und was auch Ishiguros Markenzeichen ist, ist die meisterlich gehandhabte Sprache. Die Präzision, mit der Zeitgeist eingefangen wird, der exakte Sprachbau, schlicht und einfach die Kunst, Sprache als feines und vielfältiges Instrument einsetzen zu können – all das macht ihm nicht so schnell jemand nach, und wenn Sie Ihren Schüler/-innen auch nur auszugsweise vermitteln können, welche Welten zwischen Ishiguro und einem Flughafenroman liegen, haben Sie schon viel erreicht.

Ob nur die Waisen den scharfen Blick für die Welt haben, inwieweit das Waisentum auch politische gedeutet werden kann, darüber ließe sich in Englischseminaren sicherlich recht anregend spekulieren. Aber das wollen wir anderen überlassen!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/newsletter-fuer-englisch/detail/when-we-were-orphans.html
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