To the Hermitage

Seit 1992 (Doctor Criminale) haben wir von Bradbury keinen neuen Roman gesehen, aber nun ist es wieder an der Zeit zu jubeln, dass sich das Warten gelohnt hat.
"To the Hermitage" ist ein wunderbares Buch, ein Buch für Leserinnen und Leser, will sagen für Belesene, ein Buch für Freunde der gesch ...

Seit 1992 (Doctor Criminale) haben wir von Bradbury keinen neuen Roman gesehen, aber nun ist es wieder an der Zeit zu jubeln, dass sich das Warten gelohnt hat.

"To the Hermitage" ist ein wunderbares Buch, ein Buch für Leserinnen und Leser, will sagen für Belesene, ein Buch für Freunde der geschliffenen Anspielungen, für Liebhaberinnen der Intertextualität, für Bildungsbürger und Genießerinnen. Für jene, die den Tod des Autors und die Geburt der Leserin feiern, aber auch im umgekehrten Fall etwas beizutragen haben. Es ist ein Buch für alle, die Sterne lieben, Diderot entdecken wollen, dem Geist nachjagen, dem Alltag erliegen...

Ich verzichte auf weiteres Rhapsodieren, aber es ist mir wirklich wichtig zu vermitteln, dass "To the Hermitage" geistreicher Lesegenuss ist und dass alle, die sich den Buchwelten verbunden fühlen, unbedingt diesen Roman lesen sollten.

Bradbury weiß natürlich: "So books breed books, writing breeds writing. The writer starts out as a reader in order to become a new writer." (387) Das gilt nicht nur für ihn selbst (vgl. die Note am Ende des Buches), das gilt auch dem Objekt seiner Schöpfung: dem großen Enzyklopädisten Diderot.

"To the Hermitage" ist ein Doppelroman. Einerseits begleiten wir Denis Diderot auf seiner Reise nach Sankt Petersburg, wo er 1773 seine Gönnerin Katharina die Große aufsucht und dort lange Gespräche mit ihr führt (ganz im Stil jener Gespräche, die wir in Rameaus Neffe und im Jacques finden). Andererseits begleiten wir eine bunt zusammengewürfelte Gruppe im Oktober 1993 auf ihrer Reise von Stockholm nach St. Petersburg; das Diderot-Projekt eines schwedischen Wissenschafters hat so unterschiedliche Leute wie eine Sängerin, einen Diplomaten, postmoderne Wissenschafter und ein Abbild Bradburys zusammengeschweißt. In bester Decamerone-Manier vertreiben sie sich die Zeit mit Vorträgen, allesamt brillante Satiren auf den Wissenschaftsbetrieb, bis sie endlich in St. Petersburg ankommen. Aber nur der Erzähler zeigt sich an der berühmten Diderot-Bibliothek interessiert – und erfährt dabei ein schreckliches Geheimnis. Am Ende kehren alle, auf höchst unterschiedliche Art zufrieden gestellt, zurück – so wie einst Diderot, der hoffte, die Achse Politikerin-Philosoph würde die Welt revolutionieren, und der dann einen neuen Aufbruch wittert.

Bradbury hat vor allem eine höchst lebendige Diderot-Figur geschaffen, der er mehr Freiheiten gegeben hat, als sie vielleicht hatte. Er hat Diderot für mich (und hoffentlich nicht nur für mich) so lebendig gemacht, dass mich eine neue Begeisterung für diesen Vielschreiber, der noch viel mehr ein Vielredner war, gepackt hat. So nebenbei hat er mich zu einer Biografie Katharinas, zu einem Petersburg-Reiseführer und zum Wiederlesen von "Tristram Shandy" verleitet – all das sind m.E. gute Zeichen. Gleichzeitig sind aber auch seinen Gegenwartsfiguren dermaßen gut gezeichnet, sie stehen z.T. so leichtfüßig auf den Schultern von Riesen, dass es fast schmerzt, ihre Gesellschaft nicht mehr teilen zu können. Schlussendlich streut Bradbury immer wieder Geschichten und Betrachtungen ein, die für sich stehen könnten, die aber in der Summe des Buches ein komplexes Geflecht, ein opulentes Mahl ergeben. Und er wäre nicht Bradbury, würde er nicht überallhin seine satirischen Pfeile abschicken. Allein für das ewige Jo, Jo der Schweden bin ich ihm schon dankbar!

Geneigte Leser/-innen: So sehen die Bücher aus, die sich in meiner Bibliothek der Ewigkeit stapeln sollen. Ich hoffe, möglichst viele von Ihnen werden meine Begeisterung teilen.


P.S. Und dann hatte ich, kaum war ich mit dem Buch fertig, noch das große Glück in einem Antiquariat wohlfeil die vierbändige Diderot-Ausgabe (von Hinterhäuser) zu ergattern.

 

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/newsletter-fuer-englisch/detail/to-the-hermitage.html
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