The Passenger & Stella Maris

Autor McCARTHY, Cormac

Verlag New York: Alfred A. Knopf 2022

Wo beginnen? Dass wir seit 2006 („The Road“) keinen Roman mehr von McCarthy lesen konnten? Dass McCarthy 89 ist und nun endlich das langersehnte Alterswerk vorlegt? Dass Dissertationen über die Verquickung der Themen in seinen Romanen noch geschrieben werden?

Dass bereits 2015 „The Passenger“ angekündigt wurde und nur wenige mit einer Fertigstellung gerechnet haben? Dass die Vermarktung so erfolgte, dass man glauben könnte, ein weiterer Anton Chigurh („No Country for Old Men“) werde der Protagonist sein?

Weit gefehlt! „The Passenger“ wirkt wie der Steinbruch eines Romans. Dinge geschehen und werden nicht erklärt oder weiterverfolgt. Kafkaeske Elemente und breiter Alltag wechseln einander ab, Wissenschaft und Wirtshausspekulationen purzeln durcheinander.

In „The Passenger“ verfolgen wir Bobby Western, Bergungstaucher, in den frühen 80er-Jahren. Soeben hat er nach einem Flugzeug getaucht, in dem sich 9 Leichen befinden; der 10. Passagier, die Pilotentasche und die Black Box sind verschwunden. Bald danach tauchen Agenten der Regierung auf, die Bobby verfolgen und seine Existenz zu vernichten suchen; der zieht darauf weg aus der New Orleans-Gegend und findet sich, nachdem er im Haus seiner verstorbenen Großmutter einen Goldschatz gefunden hat, in allen möglichen Gegenden wieder: etwa auf einer verlassenen Ölplattform, in der Einsamkeit Idahos, an anderen mythischen Orten. Dazwischen lesen wir zahlreiche Gespräche über den Alltag, die Kennedy-Ermordung und Quantenphysik, Quantenphysik, Quantenphysik und – Mathematik. Die Naturwissenschaft verbindet ihn nicht nur mit seinem Vater, der einst dem Manhattan-Projekt (Atombombe) angehörte, die Mathematik verbindet ihn auch mit seiner Schwester Alicia, einer genialen Mathematikerin, die ihn hingebungsvoll liebt; aber Bobby versagt sich die inzestuöse Beziehung, was ihm nicht leichtfällt.

Noch schwerer fällt dies Alicia, der Protagonistin von „Stella Maris“, einer Coda zu „The Passenger“; diese besteht ausschließlich aus Dialogen zwischen Alicia und einem Psychiater der Institution „Stella Maris“. Lange wird hier das wirklich Persönliche ausgespart, vieles dreht sich um Probleme der Mathematik. Fast möchte man meinen, McCarthy hat sich aus Wikipedia einen Fragenkatalog zur Mathematik herausgesucht; Tatsache ist aber, dass sich McCarthy bis heute dem Santa Fe Institute (SFI), einer multidisziplinären Forschungseinrichtung, verbunden fühlt. (Von dort aus hat er auch seinen Essay über Kekulé publiziert.)

Ein weiterer Schlenkerer ist die Erfindung der Horts, einer Gruppe von halluzinatorischen Gestalten, die von „the Thalidomide Kid“ geleitet wird und die Alicia in ihrem ungewöhnlichen Alltag begleiten. Auch in „The Passenger“ hat „the Kid“ seine Auftritte, was beim anfänglichen Lesen durchaus zur Verwirrung beiträgt. So besehen ist auch der zweite Band zugänglicher, Alicia erweist sich als überaus interessante Gesprächspartnerin, und fast wünschten wir, dass wir von ihrem Schicksal nicht schon auf der ersten Seite von „The Passenger“ erfahren hätten.

Bleibt noch zu sagen, dass McCarthys Sprache wunderbar vielfältig und, wie schon in seinen anderen Romanen, immer wieder sehr lakonisch (und ‚crisp‘) ist.

Wer sich also auf die fast 600 Seiten einlassen will, den erwartet nicht gefällige, sondern etwas anstrengende, aber sehr bereichernde Lektüre. (Und ganz so nebenbei beginnt man, sich für Mathematik zu interessieren.) Versuchen Sie’s!

pp. 383 + pp. 190

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.02.2023
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/newsletter-fuer-englisch/detail/the-passenger-stella-maris.html
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