The Life of Pi

Die bessere Geschichte ist die mit dem Tiger. Das stellt sich nicht nur am Ende des Buches heraus, das lässt sich auch während des Lesens leicht bestätigen, selbst wenn - durch den Klappentext irregeführt - in mir bisweilen die Befürchtung aufkam, hier stehen nicht, wie ...

Die bessere Geschichte ist die mit dem Tiger. Das stellt sich nicht nur am Ende des Buches heraus, das lässt sich auch während des Lesens leicht bestätigen, selbst wenn - durch den Klappentext irregeführt - in mir bisweilen die Befürchtung aufkam, hier stehen nicht, wie versprochen, Amado und Marquez, sondern Coelho und Fynn Pate. Aber nein, was anfänglich wie ein großzügiger religiöser Traktat, das wird letztendlich eine spannende Abenteuergeschichte, die mitunter zwischen Wissenschaft und Religion oszilliert.
Martel greift zum alten Kunstgriff der Romane des 18. Jahrhunderts. Er habe zwei wenig beachtete Bücher geschrieben, dann aber, als er in Indien weilte, um sein drittes Buch (über Portugal!) zu schreiben, von einem Manne gehört, der in seiner Heimatstadt Toronto wohne - ein gewisser Piscine Molitor oder auch Pi Patel, der eine höchst sonderbare Geschichte erlebt habe. Und eben diese höchst sonderbare Geschichte erzählt uns nun der Vermittler Martel.
Piscine, der sich in Pi umgetauft hat, weil seine Mitschüler seinen Vornamen immer als "pissing" aussprachen, wächst unbeschwert im indischen Pondicherry auf, wo sein Vater Zoodirektor ist. Pi zeichnet sich vor allem durch seine Religiosität aus - er ist praktizierender Christ, Muslim und Hindu. Als seine drei Lehrer einmal zufällig zusammentreffen, preist ihn jeder - und ist natürlich über die Multireligiosität äußerst erstaunt. Pis Bruder garniert den Vorfall mit Spott: "So, Swami Jesus, will you go on the hajj this year?" Die Leichtigkeit des Tonfalls, die Mischung aus Ernsthaftigkeit und Humor lassen uns den eher metaphysischen Teil des Buches mit Wohlwollen lesen; außerdem bereitet er uns auf das Folgende vor, nicht zuletzt durch die Begegnung der beiden Mr Kumars, der eine Pis atheistischer Lehrer, der andere der Bäcker, der ihn in den Islam einführt.
Als Pis Vater eines Tages beschließt, nach Kanada auszuwandern, wird alles anders. Nach einem Schiffsunglück findet sich Pi auf einem Rettungsboot wieder - zusammen mit einer Hyäne, einem Zebra, einem Orang-Utan und einem bengalischen Tiger namens Richard Parker. Wir begleiten den sechzehnjährigen Pi nun auf seinem 227 Tage währenden Schiffbruch, der ihn vorwiegend auf See, erst gegen Schluss auf einer seltsamen Insel findet. Pis Hauptaufgabe ist das Überleben - und das gegen einen bengalischen Tiger, gegen den er sein Territorium abstecken muss. Was uns Martel nun bietet, ist eine wirklich aufregende Mischung aus schlichter Seenotspannung, Überlebenskunst, Abenteuerromantik (vor allem auf der von Meerkatzen bewohnten Insel, auf der er und Richard Parker landen) und detaillierten, aber nicht minder spannenden Erklärungen zum Regenwasser-Sammeln, Schildkrötenfischen und anderen zoologischen Absonderlichkeiten.
Die Geschichte hat ein Happy End - Pi landet schließlich in Mexiko, Richard Parker verschwindet im Dschungel, ohne dass sich Pi von seinem gleichzeitigen Feind und Retter verabschieden kann. Die beiden ungleichen Lebewesen waren aber all die Zeit aufeinander angewiesen - und die Geschichte lebt auch von der Spannung zwischen den beiden. Denn als zwei Vertreter der japanischen Reederei Pi besuchen, zweifeln sie seine fantastische Version des Schiffbruchs an - und Pi erzählt ihnen eine viel kürzere, brutale und ebenfalls unwahrscheinliche Alternativversion; aber wie wir schon wissen, die Geschichte mit dem Tiger ist die bessere.

Ob Martel mit seinem Roman wirklich den Booker-Preis 2002 verdient hat, mag bezweifelt werden. Dass er aber ein spannendes und humorvolles Buch geschrieben hat, steht außer Zweifel. Lesenswert!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/newsletter-fuer-englisch/detail/the-life-of-pi.html
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