The Ground Beneath Her Feet

Viel besprochen, viel gekauft - so präsentiert sich Rushdies neuer Roman; ob viel gelesen, das bezweifle ich ebenso sehr wie bei den "Satanic Verses" oder "The Moor's Last Sigh", denn es ist schon auch ein Stück harter Arbeit, sich durch die Vielfalt der Personen und Episoden durchzule ...

Viel besprochen, viel gekauft - so präsentiert sich Rushdies neuer Roman; ob viel gelesen, das bezweifle ich ebenso sehr wie bei den "Satanic Verses" oder "The Moor's Last Sigh", denn es ist schon auch ein Stück harter Arbeit, sich durch die Vielfalt der Personen und Episoden durchzulesen. Respektlos möchte man meinen, hier liegt wieder einmal ein Exemplar der "Bunten-Teppich-Literatur" vor, die vorwiegend dazu da ist, zu zeigen, was nicht alles gewebt werden kann, wenn man den oberflächlichen Kommerzwesten mit mystischem Indiengebrodel verbindet. Aber Rushdie hat immer mehr geliefert - so auch hier.
Vor allem ist hier ein großer Erzähler am Werk! Bei noch so viel klugen und banalen Verweisen auf Traditionen, Ereignisse und andere Bücherwelten wirkt Rushdie kaum manieriert oder überkandidelt, sondern er behält immer die Erzählung fest im Griff. Lesen ist also nicht Vorwärtstasten, sondern Mitgerissenwerden! Gleichzeitig werden Mythen (hier vor allem Orpheus-Eurydike) mühelos so eingebunden, dass sie Stoff für neue (oder neu erzählte) Mythen sind und nicht zum Bildungsballast werden.
Wovon wird erzählt? Was ist das Gerüst?
Der Roman beginnt mit dem Tod (dem Verschwinden?) der populären und viel geliebten Rocksängerin Vina Apsara bei einem Erdbeben. Vina, Mittvierzigerin, hat ein bewegtes Leben hinter sich, das sie von Amerika nach Indien, von Indien nach Amerika geführt, viele Zwischenstationen (geografische und politische) beinhaltet hat, immer aber durch ihre einzigartige Liebe (seit ihrem 12. Lebensjahr) zu Ormus Cama, dem indischen Sänger, geprägt war. Erzählt wird diese Geschichte von Liebe, Tod und Musik von Rai, Ormus' Jugendfreund, dem späteren erfolgreichen Fotografen, der seinerseits sein Leben durch seine Liebe zu Vina bestimmt sieht.
Das aber ist nur das Gerüst: Dazwischen liegen die Geschichten vieler anderer Ereignisse und Charaktere, dazwischen liegt aber vor allem immer wieder das Hineintauchen in eine uns fremde Welt: in die indische, in Sonderheit in die Bombays (und auch seiner Anglophilie). Besonders ausführlich lernen wir im ersten Teil jene Welt kennen: Sir Darius Xerxes Cama, Lady Spenta, dann Ormus' Geschwister, Rais Eltern ... sie alle bilden ein buntes Geflecht, das für mich die größte Faszination des Buches ausübt. Als wiederkehrendes Motiv findet sich: "The only people who see the whole picture [...] are the ones who step out of the frame." (S. 43, vgl. S. 202 unten) Dazu passt nicht zuletzt, dass Ormus von seinem toten Zwillingsbruder all jene Lieder diktiert bekommt, die später Welterfolge werden sollen. Rushdie mischt dabei ungeniert echte und parallel erfundene Musikgrößen (Elvis taucht als Jesse Garon Parker auf, Parker und Vina nach deren Tod in einem Gary Larson Cartoon etc.). Indien ist also die Wiege für Kulturen - nicht zuletzt für die der Rockmusik. Die Verzahnung der Welten war Sir Darius (von lächerlicher Würde bis zum Schluss) nie vergönnt: seine Frau Lady Spenta schafft sie äußerlich (sie heiratet einen englischen Lord). Ormus und Vina (aber auch Rai) schaffen den Sprung in die westliche Unterhaltungswelt, letztendlich aber ist es Vina, die alle Welten transzendiert. Ihr Tod (besser: ihr Totsein) wird nicht nur zum Medienereignis, er weckt offensichtlich kollektive Gefühle, die niemand vermutet hätte.
Auch dies ein sozusagen aktueller Beitrag Rushdies: jener zur Medienkultur, in dem er die Ikonisierung schlechthin aufarbeitet; Vina im Leben ist eine überdimensionierte Madonna, im Tod eine überdimensionierte Diana. Gleichzeitig füllt Rushdie sein Buch mit all den kleinen Ikonen, Träumen, Gegensätzen, die ein Aufeinandertreffen der Kulturen mit sich bringt. (Ormus ist immerhin 1937 geboren, wir erleben fast ein Jahrhundert Geschichte.) Da ist noch gar nicht die Rede von der Idee, dass hier eine Parallelwelt präsentiert wird, unserer sehr ähnlich, dass die Erdbeben natürlich einen tieferen Sinn haben etc. etc. Da ist auch noch nicht die Rede davon, dass die Geschichte weitergeht: Nach Vinas Tod taucht aus der Menge der lookalikes Mira Celano auf, die zeigt, dass weder Liebe noch Musik (noch Tod?) ein Ende finden, dass sich jede Geschichte immer wieder neu erzählt.
Seiten könnte ich mit Beobachtungen füllen, Anspielungen entschlüsseln, die Titelfacetten aufzeigen - zum Beispiel halte ich jenes letzte Foto, das Rai von Vina macht, für wesentlich bedeutsamer im Hinblick auf den Titel ("the ground beneath her feet is cracked like crazy paving and there's liquid everywhere", S. 466) als das Liebeslied the ground beneath her feet (S. 475). Und, und, und. Ich überlasse das Feld da gern den Szenenklaubern; so viel kann ich ihnen allerdings versprechen: Es gibt genug zu klauben.
Auch ist manches nicht so geraten, wie es vielleicht zu wünschen wäre. Mir persönlich hat das erste Drittel am besten gefallen, aber jener Teil, in dem sich Rushdie dem Musikgeschäft widmet, jener Teil, der die Apotheose der Vina behandelt, jener Teil, der Medienkritik sein könnte, wirkt vielleicht doch zu flach, zu bemüht um Durchblick, ist zu sehr Echo medialer Verrücktheiten, wie wir sie nach Dianas Tod erlebt haben. Aber bei diesen Geschmacksurteilen mögen wir gerne auseinanderdriften. Einigkeit herrscht wohl da, wenn es darum geht, die Lektüre des Buches nachdrücklich zu empfehlen - auch jenen, die die bunten Teppiche schon ein bisschen satt haben, denn an einem der selten gewordenen großen Erzähler führt uns Leser/-innen kein Weg vorbei.

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
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