The God of Small Things

"Der deutsche Schriftsteller Arno Schmidt sagt in einer Rezension, dass der Haupteinwand gegen den 'Großen Roman' wohl der sei, dass er nicht an einem Abend zu bewältigen sei und daher sich die Tageswelt womöglich mehrmals störend dazwischendränge. Nun möchte man meinen, dass 340 Seiten wohl so ...

"Der deutsche Schriftsteller Arno Schmidt sagt in einer Rezension, dass der Haupteinwand gegen den 'Großen Roman' wohl der sei, dass er nicht an einem Abend zu bewältigen sei und daher sich die Tageswelt womöglich mehrmals störend dazwischendränge. Nun möchte man meinen, dass 340 Seiten wohl so schnell zu bewältigen seien, dass die Tageswelt ruhig bestehen kann. Mitnichten! Roys Roman, von dem dahingestellt sei, ob er ein 'Großer Roman' ist, kommt als ein Koloss daher. Es ist vermutlich die Verwandtschaft mit dem Magischen Realismus, es ist vielleicht die indische Erzählweise, die ich in einigen voluminösen Werken von Rushdie bis Chandra und Seth kennen gelernt habe, aber "The God of Small Things" ist in seiner Erzählechnik keine Ausnahme: Ein ungeheures Gebäude mit zahlreichen Nischen wird errichtet, und der nichtsahnende Besucher irrt umher, bis er endlich einen Gesamtüberblick gewonnen hat. Dabei ist dieses Umherirren keineswegs mühsam oder gar qualvoll, aber es braucht seine Zeit. Wer also glaubt, hier schnell den heurigen Gewinner des Booker Prize verschlingen zu können, dem wird das aufs Lesegemüt drücken. "The God of Small Things" ist ein Buch, für das Sie sich Zeit nehmen sollten, und es bestätigt auf seine Weise den Satz, den ich zufällig im Fernsehen gehört habe: "Wer zwei Monate in Indien weilt, glaubt das Land zu verstehen. Wer zehn Jahre dort war, versteht gar nichts." Roys Buch vermittelt das Gefühl, dass da noch unendlich viel zu entdecken wäre und nur ein paar Fäden der Erzählung aufgegriffen wurden.
Diese paar Fäden berichten vom Schicksal der Zwillinge Rahel und Estha, berichten von der Verfehlung ihrer Mutter Ammu, den Intrigen der Tante Baby Kochamma, der sehnsüchtigen Liebe ihres Onkels Chacko, der seine ach so englische Tochter, Our Sophie Mol, verlieren muss; von der Liebe Veluthas, dem tragischen Ende, dem Leben und Sterben im Haus in Ayemenem; diese paar Fäden hält der Gott der kleinen Dinge in seiner Hand, und er führt uns drastisch vor, wie sich Leben in einem Tag völlig verändern kann.
Erzählt wird das alles in Mosaiktechnik und zwar dergestalt, dass die Leseaufmerksamkeit gefordert ist. Eine fast barocke Überfülle von Handlungen, Skurrilitäten, Vignetten, Betrachtungen etc. fügt sich zu einem Bild, das die Leser/-innen unweigerlich mit dem Gefühl zurücklässt, sich durch ein indisches Epos gearbeitet zu haben. Natürlich ist Roy da nicht frei von Manierismus (zumindest durchs europäische Auge betrachtet), natürlich wirken manche Sprachspiele, aber auch manche Schicksalsfädenknüpfspiele gewollt - aber insgesamt bleibt das, was ich 'Panoramaroman' nennen möchte, und was uns auf jeden Fall in eine eigene Lesewelt entführt. Zynischer betrachtet: Roy schafft es, auf etwa einem Drittel der üblichen Bahnhofsliteratur eine Vielfalt in einem Stil und mit einer versierten Erzähltechnik auszubreiten, die signalisiert: Hier könnte große Literatur geschrieben worden sein. Ein genaues Zerpflücken würde vermutlich ein literarisches Mittelding an den Tag fördern, das mit Rushdie nicht mithalten kann, aber doch den schöngeistigen Markt recht ordentlich bedient. Vor allem aber, und deshalb rate ich auch eindringlich zur Lektüre, zeigt uns "The God of Small Things", dass Erzählen ein Wert ist, den uns die angloindische Literatur allemal noch besser vermittelt als so manch rein-europäischer Entwurf - ganz einfach deshalb, weil hier auf einem größeren Teppich gewebt wird. Wenn Sie also die Zeit finden, dann können Sie von der Lektüre dieses Buches bereichert aufstehen."

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/newsletter-fuer-englisch/detail/the-god-of-small-things.html
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