The Corrections

"Der Schriftsteller hat immer mehr zu sagen, und die Leser immer weniger Zeit zum Lesen," bemerkt Franzen in seinem (schlecht übersetzten) Essay "Perchance to Dream" (Harper's 1996), der dem Magazin "Literaturen" in der Juli/August-Nummer beigelegt war. Für seinen dritten Roman, "The Corrections ...

"Der Schriftsteller hat immer mehr zu sagen, und die Leser immer weniger Zeit zum Lesen," bemerkt Franzen in seinem (schlecht übersetzten) Essay "Perchance to Dream" (Harper's 1996), der dem Magazin "Literaturen" in der Juli/August-Nummer beigelegt war. Für seinen dritten Roman, "The Corrections", wird man sich allerdings Zeit nehmen müssen, doch die Mühe lohnt sich.
Die Mittelklasse-Familie ist schrecklich. Ist die Mittelklasse-Familie schrecklich? Darum geht es in Franzens groß angelegtem Panorama einer Familie aus St. Jude, dem Mittelklasse-Mittelwesten, wo Angepasstheit ein Wert ist und zu süßer Sekt aus Wien ein kleiner Luxus, den man sich zu besonderen Zeiten gönnt. Alfred und Enid Lambert leben dort mit ihren Kindern, Gary, Chip und Denise. Amerikanische cheerfulness angesichts von Problemen, sittenstrenge Erziehung und Prinzipientreue machen die grundsätzliche Sprachlosigkeit der heilen Welt mit Mühe wett. Das geht, solange die Kinder Kinder sind. Die meisten von uns werden jene Szene, da Chip erst aufstehen darf, wenn er von der Leber und den gelben Rüben zumindest gekostet hat, in irgendeiner Form miterlebt haben - und in Franzens großartiger Darstellung spüren, welch Stellvertreter-Kriege da in Familien bei solchen Anlässen geführt werden.
Die Kinder entkommen - jedes auf seine Weise und bescheren damit Enid ein grundsätzliches Leiden: "Her children wanted radically, shamefully other things."
Gary wird Banker und muss zusehen, wie sich seine drei Kinder ihm zu entfremden beginnen, nicht zuletzt weil seine Frau mit ihren Schwiegereltern nicht auskommt. Gary pendelt zwischen Anfällen starker Depression (und Anhedonia) und dem Glauben, mit den richtigen Strategien alles in den Griff bekommen zu können. Chip, erfolgreicher lecturer (sehr witzig, wie Franzen mit dem Wissenschaftsbetrieb umgeht), verliert nach einer Affäre mit einer Studentin seinen Posten, macht seine Mutter glauben, er arbeite für das Wall Street Journal, wo er doch erfolglos an einem Drehbuch schreibt, und gerät schließlich nach Litauen, wo er mit dem ehemaligen Vizepräsidenten versucht Amerikaner abzuzocken. Denise, liebenswerteste Erscheinung unter allen, ist eine Starköchin in Philadelphia und hat ein Verhältnis mit der Frau ihres Chefs - was auf Dauer nicht gut gehen kann.
All das bekümmert Enid (die übrigens oft nur halbe Wahrheiten kennt), doch sie breitet darüber den geschwätzigen Mantel kleinstädtischer Freundlichkeit und Güte. Dazu kommt, dass ihr Mann Alfred, nunmehr 75, an Parkinson und beginnender Demenz leidet, eine Tatsache, die sich immer schwerer "zureden" lässt; bei einer Kreuzfahrt stellt sich heraus, dass er in ein Heim eingeliefert werden muss.
All das steht unter dem Vorzeichen der herannahenden Weihnachtsfeiertage, an denen Enid die gesamte Familie in St. Jude versammeln will - ein mühseliges Unterfangen, wie sich zeigt.
Franzen hat das Panorama dieser Familie mit zahlreichen gesellschaftlichen Themen verknüpft: Lehrbetrieb und Kulturkritik, Finanzmärkte, Osteuropa-Politik, Pharma-Industrie, Krankheit (Alfreds Erkrankung ist meisterlich dargestellt), Gastronomie, amerikanisches Erfolgsdenken und dergleichen mehr. All diese Themen werden geist- und kenntnisreich abgehandelt, und auch Nebenfiguren werden kräftig, oftmals ironisch, aber immer gekonnt und nachhaltig interessant gezeichnet; besonders gelungen sind jene Stellen, wo unter der amerikanischen Maske die skurrile Alltagstragödie durchschimmert (vgl. etwa die Kreuzfahrt). Gleichzeitig hat Franzen ein sprachlich und erzähltechnisch hervorragendes Buch geschrieben, z.T. wie eine mächtig lange Jazz-Nummer komponiert, mit gelungenen Soli, die einander gelegentlich überschneiden und sich immer wieder zu einem Ganzen fügen. Als Leitmotiv taucht natürlich laufend Corrections auf, das sich in vielfältigen Facetten findet: Enid versucht bis zum Schluss, ihrem Mann ihre Welt aufzuzwingen, die Kinder versuchen (vergeblich) die Welt der Eltern (auch in sich selbst) zu korrigieren, Chip versucht verzweifelt sein Drehbuch zu korrigieren, jeder der Lebensentwürfe will korrigiert sein - und so nebenbei soll die Korrekturanstalt neben dem College verhindert werden. Für die Seminararbeitenschreiber/-innen wird es also sicher eine reizvolle Aufgabe sein, dem Begriff Corrections ordentlich nachzuspüren.
"The Corrections" hat in den Staaten einigen Staub aufgewirbelt, nicht zuletzt deswegen, weil sich Franzen nicht von Oprahs Buchklub vereinnahmen lassen wollte; der Roman hat auch den National Book Award 2001 erhalten und wer sich näher über all den Hype um Franzen informieren will, der kann ja mal mit www.jonathanfranzen.com/index.htm beginnen. All das sollte Sie aber nicht abhalten, das Buch zu lesen, das vermutlich in die Literaturgeschichte, zumindest in die amerikanische, eingehen und zu den wichtigen Romanen der Jahrhundertwende zählen wird.

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/newsletter-fuer-englisch/detail/the-corrections.html
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