The Coast of Utopia. Voyage, Shipwreck, Salvage

Lange hat man schon von Tom Stoppard kein neues Stück gelesen und mit doppelter Neugier macht man sich daher an seine umfangreiche Trilogie über die russische Intelligenzija des 19. Jahrhunderts her.Wir beginnen 1833 in Premukhino, dem Landsitz der Bakunins, und enden 1868 in der N&aum ...

Lange hat man schon von Tom Stoppard kein neues Stück gelesen und mit doppelter Neugier macht man sich daher an seine umfangreiche Trilogie über die russische Intelligenzija des 19. Jahrhunderts her.
Wir beginnen 1833 in Premukhino, dem Landsitz der Bakunins, und enden 1868 in der Nähe von Genf mit Alexander Herzen. Dazwischen liegen Jahre des Planens, Schreibens, Fliehens. Dazwischen liegen aber auch Jahre reich an persönlichen Freuden und Tragödien. Stoppard entwirft ein ungeheures Panorama und bevölkert es mit zahlreichen Charakteren. Sympathische Hauptfigur ist Alexander Herzen, der von London aus die Freie Russische Presse betreibt und der letztlich von den politischen Ereignissen überrollt wird, weil er nicht einsehen will, dass zahlreiche Menschen auf dem Altar der Geschichte geopfert werden müssen. Um Herzen, der ja auch oft als Geldgeber fungiert, gruppieren sich zahlreiche Exilanten und politische Köpfe der Epoche. Da ist Michael Bakunin, ewig in Geldnöten und ewig auf der Suche nach einer Revolution, da ist der zögerlich-liberale Turgenjew, da ist Ogarev, mit dessen Frau Natalie Herzen seine "persönliche Freiheit" lebt, da ist Herwegh, der eitle Revolutionär, da ist ein doktrinärer Marx, ein müder Stanislav Worcell etc. etc.
Stoppard hat gründlich recherchiert und er hat seinen Charakteren viele politische Sätze in den Mund gelegt, er hat aber auch ihr persönliches Schicksal nachgezeichnet, ihren Alltag eingefangen, ihre Verzweiflungen und ihre überschwängliche Freude. Herzen, der ja politisch letztendlich gescheitert ist (und von Lenin vereinnahmt wurde, obwohl er ihn wohl kaum unterstützt hätte), bleibt dabei die menschlichste Figur, und mit ihm hat Stoppard auch eine echte und nachhaltige Theaterfigur geschaffen. Die Begeisterungsfähigkeit Herzens, seine ironische Distanz, seine Großzügigkeit, seine Leidensfähigkeit – all das zeichnet ihn vor allen anderen aus. Stoppard, wahrlich kein Freund des Sozialismus, hat es daher auch nicht verabsäumt, Herzen (und m. E. Turgenjew) mit hohen Sympathiewerten auszustatten, während er Bakunin und Herwegh eher der Lächerlichkeit preisgibt, Marx hingegen mit schlecht überspielter Verachtung bedenkt.
Nun sollte man meinen, dass mit dieser Trilogie, die eher erzieherisch-belehrende denn theatralisch-unterhaltende Absichten hat, so etwas wie ein Lesedrama vorliegt, aber die Aufführung im National Theater (neun kurzweilige Stunden) hat mich eines Besseren belehrt. Trevor Nunn hat "The Coast of Utopia" mit einer Leichtigkeit inszeniert (unterstützt von Dudleys beweglichen, raumfüllenden Bühnenbildkompositionen), die eben englischen Regisseuren zu eigen ist. Da füllt sich der Text plötzlich mit viel mehr Witz und bekommt einen viel größeren Unterhaltungsfaktor, als man ihm zugetraut hätte; und auch die etwas langwierigen philosophischen und politischen Debatten gewinnen eine natürliche Eigendynamik, zumal Bakunins philosophische Flatterhaftigkeit und Turgenjews konziliantes Gehabe immer wieder für willkommene Kontrapunkte sorgen.
Beides, Text und Aufführung, vermitteln jedenfalls ein lebendiges Bild von diesem Zeitabschnitt, und wie bei allen 'historischen Dramen' lassen sich natürlich allgemein gültige Aussagen über die Natur des Menschen (als zoon politikon) machen, sodass man Stoppard diesmal mit neu/wieder entfachtem Interesse für seine historischen Charaktere und mit dem Gefühl, einem Text- und Theaterereignis beigewohnt zu haben, verlässt.

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
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