Booker Prize 2000

Der Roman beginnt mit dem Selbstmord der 25-jährigen Laura Chase im Jahr 1945; Laura, eine der beiden Töchter (oder gar der drei?) eines Industriellen, der in der kanadischen Provinz, in Port Ticonderoga, eine Knopffabrik betreibt, gilt auch als die Verfasserin des Kult-Romans "The Blind Assassin", der posthum erschienen ist und u. a. mit dem Werk von Djuna Barnes verglichen wird.

Aus den Aufzeichnungen von Iris Griffen-Chase, (1916-1999), die sie für ihre Enkelin anlegt, damit "loss and regret, misery and yearning", die diese Familensaga vorantreiben, festgehalten werden, erfahren wir die Wahrheit über die Chase-Mädchen; Iris führt uns durch ein Jahrhundert, durch ihr behütetes Heranwachsen, den Tod der Mutter, die eigene Heirat mit Richard Griffen, der sich als skrupelloser Mensch entpuppt, durch Lauras Geschichte und durch die Beziehung zum wichtigsten Mann im Leben der beiden Mädchen, dem Aufwiegler und Revolutionär Alex Thomas. Wir verfolgen Iris' Schicksal mit, die den Kampf gegen ihre Schwägerin Winifred verliert, nachdem Richard durch einen "Unfall" zu Tode kam; wir erleben Iris, wie sie sich hartnäckig gegen die Vereinnahmung ihrer Schwester durch die Medien und die Literatur-Gemeinde wehrt, und wir erfahren (relativ spät) die wahren Zusammenhänge, obwohl wir sie doch immer ahnen.

Das ist der eine Roman; der andere, "The Blind Assassin", war ein Skandalbuch, denn es erzählte von der Liebesaffäre einer jungen Frau zu einem Mann, der in abgewohnten Hotels auf sie wartet und dort Bett und Geschichten mit ihr teilt. Dadurch entsteht ein Roman im Roman im Roman, nämlich die Geschichte der blutrünstigen Welt von Sakiel-Norn, die wirkt, als hätte sie ein Robert E. Howard (der Schöpfer von "Conan") geschrieben.

All diese Erzählstränge, aber auch unendlich viele Szenen, die von großer Beobachtungsgabe, gründlicher Recherche, erzählerischer Virtuosität zeugen, ergeben ein Roman-Geflecht, dem man durch eine Inhaltsangabe keineswegs gerecht werden kann. Atwood hat zuletzt in "The Robber Bride" und "Alias Grace" bewiesen, wie meisterlich sie Einzelschicksale mit der gesellschaftlichen Entwicklung Kanadas zu verbinden versteht, und es ist ein wahres Vergnügen, ihrem Kraftakt des Schreibens den Kraftakt des Lesens gegenüberzustellen, denn eines ist klar: Atwoods Bücher brauchen ihre Lesezeit, auch wenn diese rasch verfliegt, weil sie es versteht, durch Inhalt, Sprache und Erzähltechnik zu fesseln. Mitunter ist es schwierig zu entscheiden, welchem Erzählstrang man mit mehr Begeisterung folgen will – ich selbst etwa war eine Zeit lang ganz gefangen von der pulp fiction story rund um die Welt von Sakiel-Norn. Aber Gewalt und Sexualität dieser Welt beginnen allmählich gegen die der 'wirklichen' Welt zu verblassen, sodass Sakiel-Norn nur mehr als schwache Folie wirkt, die dann auch ziemlich rasch und unzeremoniell zerknüllt wird.

Atwood hat mit "The Blind Assassin" gleich mehrere Bücher geschrieben: eines über das Schaffen literarischer Fiktionen, eine Familiensaga, eine Ehebruchsgeschichte, eine Geschichte des Missbrauchs, eine Geschichte der Macht, eine Geschichte geschwisterlicher Zuneigung, ein Sittenbild der Zeit, ein Sittenbild des Alterns. Diese großartige Vielfalt so zu präsentieren, dass wir ihr doch mit wachsendem Interesse, mit Neugier, Zorn und Mitleid folgen können, ist eine Leistung, die nur wenige Schriftsteller/-innen zuwege bringen. Ich kann nur hoffen, noch recht viel von Atwood lesen zu dürfen. Die Tatsache, dass sie den Booker Prize 2000 mit diesem Roman gewonnen hat, wird sie hoffentlich zu weiteren Erzählkunstwerken beflügeln.