Still She Haunts Me. A Novel of Lewis Carroll and Alice Liddell

Warum Charles Lutwidge Dodgson, durchschnittlicher Mathematiker, zurückgezogener und scheuer Mensch, Stammler und Ordnungsfanatiker, der sich nur in der Gegenwart von Kindern wohlzufühlen schien, seinen Kontakt zur Familie Liddell im Jahr 1863 plötzlich einstellte, ist ein Geheimnis, dessen sich ...

Warum Charles Lutwidge Dodgson, durchschnittlicher Mathematiker, zurückgezogener und scheuer Mensch, Stammler und Ordnungsfanatiker, der sich nur in der Gegenwart von Kindern wohlzufühlen schien, seinen Kontakt zur Familie Liddell im Jahr 1863 plötzlich einstellte, ist ein Geheimnis, dessen sich nicht nur dieser biografische Roman annimmt. Sieben Jahre hatte er Alice gekannt, Jahre hindurch hatte er die Liddell-Kinder (aber auch andere Kinder und Erwachsene) fotografiert, noch war er als Fotograf bekannter als als Autor von "Alice".
Roiphe liefert uns eine Erklärung, warum plötzlich ein Brief kommt, in dem es heißt: "It is no longer desirable for you to spend time with our family."
Bis dahin verfolgen wir die Geschichte zweier Menschen, die voneinander fasziniert sind: Dodgson in einer hilflosen, ambivalenten Erwachsenenart, Alice in einer grausam-kindlich-zuneigungsvollen. Zwischen den beiden stehen der Arzt Hunt, der Dodgson wegen seines Stotterns betreut, und Mrs Liddell, die die Freundschaft zwischen Dodgson und ihren Kindern mit einer Unruhe wahrnimmt, der sie keinen Namen geben kann.
Roiphe hat einerseits viele Vorkommnisse in Carrolls Werk mit Vorkommnissen im Leben des Mathematikers Dodgson verknüpft, damit die gespaltene Persönlichkeit, die Hunt wahrnimmt, miteinander verbunden; gleichzeitig hat sie das latent Erotische der Beziehung in einer unaufdringlichen Klarheit dargestellt, die vermutlich Dodgson selbst verborgen geblieben wäre. Es liegt nahe, die Beziehung mit den sensibilisierten Missbrauchs-Augen des 21. Jahrhunderts zu sehen, nicht mit den moralischen des 19., aber Roiphe vermeidet diesen Weg; dennoch schürt sie nicht nur bei Mrs Liddell, sondern auch bei uns genug Unbehagen, sodass die eigentliche "Katastrophe" nicht unerwartet kommt.
Da mag nun viel zu deuten und zu kritisieren sein, was die "historische Wahrheit" des Buches angeht, aber das ist wohl nicht der Punkt. Roiphe hat einfach anhand einer "echten Beziehung" gezeigt, dass der Mensch eben ein Abgrund ist und es einen schwindelt, wenn man hineinsieht. Das muss nicht unbedingt deswegen sein, weil so viele schreckliche Dinge am Grund schlummern, sondern einfach deshalb, weil wir uns dem Schwer-Fassbaren und Schwer-Ermesslichen nahe fühlen, fern vom Boulevard eben. Wir dürfen Roiphes Auflösung bezweifeln, lesenswert ist sie dennoch.

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Sprache
Deutsch
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Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
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