Six

Crace ist immer für Überraschungen gut! Sein "Quarantine" (s. Archiv) gehört für mich zu den besten Romanen der englischen Gegenwartsliteratur, sein "Being Dead" (s. Archiv) zu den messerschärfsten Beschreibungen seit Balzac.Diesmal finden wir uns in einem eigenartigen Craceland wieder: Die Rede ...

Crace ist immer für Überraschungen gut! Sein "Quarantine" (s. Archiv) gehört für mich zu den besten Romanen der englischen Gegenwartsliteratur, sein "Being Dead" (s. Archiv) zu den messerschärfsten Beschreibungen seit Balzac.
Diesmal finden wir uns in einem eigenartigen Craceland wieder: Die Rede ist von einer Stadt, in der gerade der Ausnahmezustand herrscht, einer Stadt, die Rousseau "The City of Balconies", ein Life-Reporter "The City of Kisses" genannt hat. Crace lässt sie wie ein Bühnenbild entstehen, lebendig, detailverliebt und dennoch seltsam künstlich.
In ihr ist – nach der Jahrtausendwende – Felix Dern ein bekannter Schauspieler – Bühnenliebling, aber auch Hollywooddarsteller; Sänger und Werbeträger, auffällig durch sein rotes Feuermal im Gesicht.
Felix (47), von allen Lix genannt, ist zum zweiten Mal verheiratet, mit Mouetta, einer liebenswerten Frau, die gerade schwanger geworden ist, denn es ist Schicksal und Fluch des Felix Dern, dass alle Frauen, mit denen er schläft, letztendlich schwanger werden. ("Every woman he dares to sleep with bears his child" – so lautet der erste Satz des Romans.) Mouettas Kind wird sein sechstes sein – und offensichtlich auch sein letztes. Anhand der Liebschaften und anhand der Schwangerschaften verfolgen wir nicht nur das Schicksal des Felix Dern, der 1979 eine unbekannte Geschäftsfrau schwängert und damit seine Sechserserie beginnt, wir verfolgen auch das Schicksal der Stadt, die namenlos bleibt, aber in jeder aufgeklärten Diktatur angesiedelt sein könnte. Sein zweites Kind, George, wird von Freda, der politischen Aktivistin und Cousine von Mouetta großgezogen – George ist ihr Anliegen, einzig und allein. Freda, die jede Liebesnacht diktiert hat, versucht auch jetzt noch, sich in Felix' Leben einzumischen. Seiner dritten Beziehung (und seiner erste Ehe) mit Alicja, Tochter polnischer Einwanderer, entstammen zwei Kinder, doch irgendwann wir die Ehe geschieden; Felix hat eine kurze, rauschhafte Beziehung zu einer Schauspielerin – und ein Kind mehr. Und nunmehr wird er – fast ausgetrickst – wieder Vater.
Felix (der Glückliche) ist passenderweise auf Lix reduziert, so wie sich eben sein Glück in Grenzen hält. Die Selbstgefälligkeit (auf durchaus sympathische Weise), das ewig männliche Denken um Sex bestimmen seine Existenz, auch wenn er in allen Dingen eher feige und zurückhaltend ist. In der Politik hat er sich nur einmal für Freda exponiert (als er mit ihr eine verwerfliche Symbolfigur der Macht entführen wollte), in der Liebe, in den Beziehungen hat er gelernt vorsichtig zu agieren – und dabei versteht er doch oft die Zeichen der Frauen falsch.
Aber Lix ist mehr als ein Erotomane, mehr als ein Schwängerer, mehr als eine Folie für sechs Fruchtbarkeitskapitel. Er ist Synekdoche für die Geschichte einer Stadt, die unwirklich bleibt, aber wegen ihrer leicht bedrohlichen Züge fast dystopischen Charakter annimmt und als solche fasziniert. Es wäre also falsch "Six" als Roman des Männerelends zu lesen, als Buch über das Leben und ein paar Lieben – "Six" ist auch ein Roman über fremde Welten, die ganz nahe bei unseren liegen. Und "Six" ist wahrscheinlich auch ein bisschen ein selbstgefälliger Roman, denn Crace hat sich in diesem Buch offensichtlich besonders bemüht uns eine jambische Sprache um die Ohren zu schlagen, die beinahe vom Geschehen ablenkt. Immer wieder habe ich mich dabei ertappt, dass ich ganze Passagen nur auf ihren Rhythmus hin gelesen habe, und ich war gezwungen zurückzukehren um den Erzählfaden nicht zu verlieren. Vielleicht verdient "Six" dafür das Prädikat "accomplished", aber es ist fast schade, dass so viel Handwerk (auch wenn es meisterlich ist) sichtbar wird. Sei's drum: Jim Crace gehört für mich zu den ganz großen Autoren der Gegenwartsliteratur und ich freue mich schon auf seinen nächsten Roman.

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
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