Charlotte Temple
1794 erschien der Roman zum ersten Mal – also eigentlich kein Buch für diesen NEWSLETTER! Aber es gibt zwei Gründe, warum ich Ihnen das Buch nicht vorenthalten will. Der erste ist mein Erschrecken. "Charlotte Temple" war bis zum Erscheinen von "Uncle Tom's Cabin" das populärste Buch Amerikas, de ...
1794 erschien der Roman zum ersten Mal – also eigentlich kein Buch für diesen NEWSLETTER! Aber es gibt zwei Gründe, warum ich Ihnen das Buch nicht vorenthalten will. Der erste ist mein Erschrecken. "Charlotte Temple" war bis zum Erscheinen von "Uncle Tom's Cabin" das populärste Buch Amerikas, der erste Bestseller sozusagen, der in 200 Auflagen erschein. Und zu meiner großen Beunruhigung habe ich das erst jetzt, nach einem langen Leseleben, mitbekommen. Wenn es da draußen noch viele viele Beispiele gibt, die mein Unwissen zementieren, dann macht mich das schon ein bisschen nervös. Der zweite ist der Hinweis auf die außerordentlich hübsche Reihe der Modern Library; mehr darüber erfahren Sie auf der Website (www.modernlibrary.com).
Der Roman selbst ist ein kurzer Schmachtfetzen, der bestens ins 18. Jahrhundert passt. Von Richardson wissen wir ja, dass das Einzige, was eine Frau hat, ihre Tugend ist – und ist die verloren, muss natürlich im moralisierenden Roman die entsprechende Bestrafung erfolgen.
Die fünfzehnjährige Charlotte lässt sich von einem englischen Soldaten, der nach Amerika reist, verführen. Sie verlässt die liebenden Eltern (für deren Vorgeschichte auch ein paar kurze Kapitel übrig sind), wird in Amerika vom schwachen Schurken Montraville verlassen, ist schwanger und allen möglichen Intrigen ausgesetzt. Wie üblich, gibt es ein paar weitere Charaktere, die noch schurkischer als der Schurke (eben der beliebte schwache Charakter der Zeit) sind. Rowson spart nicht mit belehrenden Einlagen, sie versichert auch immer wieder (vgl. dazu "Moll Flanders"), dass die Geschichte wahr sei und zur Erbauung und Abschreckung dienen möge. Wir dürfen annehmen, dass diese Pflichtübung von den vielen Leserinnen (!) wohl eher nur am Rande wahrgenommen wurde…
Die Sprache ist bisweilen holprig und schludrig, die Erzählung mitunter unbeholfen, hat aber jenes bewundernswerte Tempo, bei dem im Hauptsatz gehustet und im Nebensatz gestorben wird. Und die betuliche Wortwahl trägt heutzutage durchaus zum Vergnügen bei, liest man doch sowieso auf einer Metaebene.
P. S. Vor mir liegt übrigens auch "Clotel", "the first novel published by an African American." Ich mach mir ernsthaft Sorgen….