Orbital
Autor HARVEY, Samantha
Verlag London: Vintage 2024 (1st 2023)
Harvey ist auch auf diesen Seiten keine Unbekannte, ihr „The Western Wind“ wurde hier rezensiert (s. Archiv). Mit diesem schmalen Roman gewinnt sie den Booker Prize 2024 und ist damit seit 2018 wieder die erste Frau, der die Auszeichnung zuteil wird.
„Orbital“ folgt für einen Tag vier Astronautinnen und Astronauten und zwei Kosmonauten. Roman und Anton, die Kosmonauten, sind klarerweise Russen. Pietro ist Italiener, Shaun Amerikaner und Nell ist Britin, Chie Japanerin. Sie alle schweben 250 Meilen über der Erde, in der International Space Station. Ihre Aufgabe ist es, die Erde zu beobachten. In 24 Stunden rotiert ISS sechzehn Mal, d.h. alle 90 Minuten erleben sie einen Morgen; gut sichtbar ist die Erde allerdings nur bei Nacht.
Die sechs Personen haben wenig gemeinsam (außer dass sie alle Winnie-the-Pooh kennen), aber im All verbindet sie der Alltag (‘the pulse measuring, the urine sampling’). Harvey gibt ihnen aber kurz skizzierte ‚backstories‘. Chies Mutter ist gerade gestorben, und in ihr wächst die Sehnsucht nach Rückkehr. Themen wie Glaube, Kunst, Trauer, Fortschritt, Technologie werden somit in den kurzen Roman hineinverwoben, denn für alle Charaktere gibt es kurze Anknüpfungen ans Erdendasein.
Im Gegensatz zu den 17,000 Meilen, die die Raumstation in der Stunde zurücklegt, ist es ein ruhiges Buch geworden. Und es stellt sich heraus, dass man die Dinge klarer sieht, je weiter weg man ist. Trotzdem gilt der Satz von Novalis auf die Frage: Wohin gehen wir? – Immer nach Hause!
pp. 136 (Gegenwartsliteratur)