Zwanzig und ein Tag

Mit Vergnügen erinnere ich mich des Films "Urga", vor allem jener Szene, in der die Großmutter die Plastiknoppen der Kühlschrankverpackung zerdrückt. Da ist plötzlich ein Brückenschlag zu einer anderen Welt.
Genau diesen Brückenschlag versucht Tschinag, der als Sohn tuwinischer Viehzüchter-Noma ...

Mit Vergnügen erinnere ich mich des Films "Urga", vor allem jener Szene, in der die Großmutter die Plastiknoppen der Kühlschrankverpackung zerdrückt. Da ist plötzlich ein Brückenschlag zu einer anderen Welt.

Genau diesen Brückenschlag versucht Tschinag, der als Sohn tuwinischer Viehzüchter-Nomaden geboren wurde, in Leipzig studiert hat und in deutscher Sprache schreibt. "Zwanzig und ein Tag" schildert die Rückkehr des Autors in seine mongolische Heimat; er und seine Frau (eine Fremde!) werden überall willkommen geheißen, und allmählich besinnt sich der Erzähler seiner Tradition, seiner Kindheit, der Lebenswelt der Tuwinen. Eingestreut sind Erzählungen von jetzigen und vergangenen Festen, von skurrilen Verwandten und "unerhörten Begebenheiten" (die tapfere Kinderliebe etwa), von Murmeltierjagden und Zeremonien aller Art.

Dies alles liest sich mit dem wohligen Gefühl der Fremdheit, nicht dem Schauder vorm Fremden, und macht Lust, an den Schauplatz des lockeren Erzählgefüges zu reisen. Das wirklich Faszinierende ist aber nicht das Einander-Beriechen oder das Schönheitsideal der Tuwinen oder das Essverhalten - das wirklich Faszinierende ist die Sprache. In all meinen Klassen ging ich mit dem Wort Schoralga hausieren: Dies ist der ehrerbietige Gruß an die heimkehrenden Jäger, der zugleich das Recht des Sprechers auf einen Beuteanteil kundtut. Bei uns hieße es vielleicht: "Ich grüße Euch, Meister, gut gemacht, ich hätte gern ein halbes Kilo von der saftigen Wade!" Die Agglutination macht daraus ein schlichtes (und beeindruckendes) Schoralga. Zu den Leselisten, die ich verlange, gehört mindestens ein Buch, das Zugang zu einer fremden Welt eröffnet: Neben, sagen wir, Kadarë, Rytchëu, Inoue, hat sich nun auch Galsan Tschinag einen Platz auf der Liste verdient. Ein Lob gebührt der Ausstattung dieser Reihe, die sich vornehmlich an jugendliche Leser/-innen wendet. Leider halten die Inhalte nicht immer mit (vgl. GermanistInnenforum Nr. 6, Kaiser) - diesmal aber hat's geklappt.
(GF9/5-1996)

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://rezensionen.schule.at/portale/rezensionen/julit-deutsch/fremde-laender/detail/zwanzig-und-ein-tag.html
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